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BAUEN WIR DIE ZUKUNFT MIT PILZEN?

—— Viele Baumaterialien sind nicht recycelbar und landen als schadstoffbelastete Abbruchabfälle in Deponien, während wichtige Rohstoffe wie Bausand knapper werden. Eine mögliche Lösung für dieses Problem ist ein nachwachsender Rohstoff, der bisher in der Baubranche so gut wie unbekannt ist: Pilze.

TEXT DAVID LÜTKE
FOTO STOCKSY/KRISTIN DUVALL, ALAMY/CUSTOM LIFE SCIENCE IMAGES, SHUTTERSTOCK/CANNABIS_PIC, MOGU

Man kann Dr. Tien Huynh ohne Weiteres als eine der leidenschaftlichsten Fürsprecherinnen für Pilze beschreiben. Sie ist Dozentin an der RMIT-Universität im australischen Melbourne und sieht in ihrem Forschungsobjekt einen vielversprechenden nachhaltigen Ersatz für Baustoffe.

Derzeit übersteigt der ökologische Fußabdruck des Bauwesens bei Weitem den des Flugverkehrs. Nach Angaben der Europäischen Kommission verursacht das Baugewerbe mindestens 40% der weltweiten Kohlendioxidemissionen und schätzungsweise ein Drittel des weltweiten Gesamtabfalls – umso problematischer, denn der größte Teil davon ist kontaminiert und nicht recycelbar.

Aber wie wird aus Pilzen Baumaterial? Der Grundbaustein aller Pilzarten ist das sogenannte Myzelium. Es besteht aus feinen Strängen in ausgedehnten, meist unterirdischen Netzwerken, wie Wurzeln. „Der sichtbare Pilz ist im Prinzip die Frucht an der Spitze“, sagt die Forscherin. Das organische Material kann geerntet, getrocknet und industriell in beliebige Formen gebracht werden.

Um das Material anzureichern, kann es zum Beispiel mit landwirtschaftlichen Abfällen gefüttert werden – ein nachhaltiger Nebeneffekt. Das Ergebnis kann in einer Reihe von Produkten verwendet werden, von kompostierbaren Verpackungen bis hin zu wiederverwertbaren Elektronikplatinen. Aber die interessantesten Möglichkeiten für Myzelium: Ziegel und Leder.

In Form von Ziegeln könnte das Myzelium Isolierschaum ersetzen, der normalerweise aus Polystyrol besteht. Damit könnte nicht nur eine große Abfallquelle beseitigt werden – die natürlichen Myzeliumblöcke haben auch noch einen weiteren Vorteil: Feuerbeständigkeit. „Im Vergleich zu Polystyrol entwickelt ein Pilzziegel im Brandfall keine giftigen Dämpfe, er verändert seine Form nicht“, erklärt Huynh. „Er bildet eine verkohlte Oberfläche, eine Opferschicht, die den Rest des Ziegels in seinem ursprünglichen Zustand belässt. Er löscht sich selbst.“

Myzelium hat vielversprechende Eigenschaften – es ist etwa biologisch abbaubar, atmungsaktiv und feuerbeständig. Es kann in dünnen Schichten oder ziegelartigen Blöcken hergestellt werden.

Für den Fall einer Sanierung von Bestandsgebäuden verweist Huynh auf eine weitere Erfindung ihres Teams. „Wir nennen es ‚Fleather‘ – fungal leather“, sagt sie. „Pilzleder ist eines der leichtesten Pilzprodukte. Der Vorteil für Hausbesitzer: Sie können es wie eine Tapete anbringen.“

Die Liste der positiven Eigenschaften von Myzelium ist lang: Wasser-, Feuer- und Schimmelresistenz, biologische Abbaubarkeit, Stabilität, Atmungsaktivität, Isolierung, Geschmeidigkeit, Schallabsorption – und sogar die Eignung für den 3D-Druck. Myzelium hätte also das Potenzial, die Bauindustrie zu revolutionieren.

„Doch in welchem Umfang kann sich das durchsetzen?“, fragt sich Martin Kneißl. „Die Baubranche ist allgemein sehr konservativ.“ Der Bauingenieur leitet das Geschäftsfeld Bautechnik bei TÜV SÜD. Zuletzt betreuten Kneißl und sein Team das Projekt Timber Pioneer, Frankfurts erstes Bürogebäude in Holz-Hybrid-Bauweise. Durch 1.800 Kubikmeter verbautes Holz konnte das Projekt 80% CO2 einsparen. „Das Thema Holz-Hybridbau ist aktuell eines der wirklich innovativen Themen und stellt sich am Markt sehr gut dar.“

Aber auch ungewöhnliche Naturmaterialien sind Martin Kneißl nicht fremd. Als die Universität Gießen das Skelett eines Pottwals in einem Hörsaal an die Decke hängen wollte, traute sich zunächst niemand an den Baustoff Knochen heran. „Aus unseren Nachforschungen zum Material konnten wir die Werte ableiten, die wir als Bauingenieure und Statiker brauchen“, erklärt Kneißl. Das Team entwarf schließlich aufgrund statischer Berechnungen eine filigrane Drahtkonstruktion zur Befestigung. „Der Wal hat zum Schluss auch sein eigenes TÜV SÜD-Siegel bekommen.“ Das Beispiel illustriert den Anspruch der Spezialisten von TÜV SÜD, bei einer Prüfung immer alle relevanten Parameter zu kennen. „In Sachen Baumaterialien stelle ich immer die gleichen Fragen: Was muss hinsichtlich Brandschutz, Schallschutz, Wärmeschutz und Feuchteschutz berücksichtigt werden?“, erklärt Kneißl. Bei den gängigen Baustoffen habe er dank bestätigter Werte bereits die Antworten darauf – in Bezug auf Myzelium jedoch noch nicht.

Am Ende des Herstellungsprozesses wird das Myzelium, wie hier bei der Firma Mogu, einem sogenannten Inertisierungsverfahren unterzogen – durch langsame Trocknung erhält das Material langlebige Stabilität.

Dr. Tien Huynh bestätigt: Existierende Projekte seien eher konzeptionelle Kunst als bezugsfertige Häuser. „Bei diesen Ausstellungsmodellen wird noch die spezielle Ästhetik der Pilze bewusst inszeniert, damit man sie als spezifische Merkmale erkennt“, erklärt sie. Dies könne aktuell noch zu einem Zögern der Industrie beitragen. „Im Moment ist es wahrscheinlicher, dass sich Pilze in der Modebranche durchsetzen als im Bauwesen.“

Die Lücke zwischen konzeptionellem Design und urbanem Wandel könnte womöglich die Automobilindustrie schließen. Mercedes-Benz beispielsweise stellt bereits nachhaltige Polster und Teppiche aus Pilz- und Kaktusleder vor.

Wie geht es nun weiter mit der industriellen und nachhaltigen Nutzung von Pilzen, während wir auf weitere visionäre Beispiele warten? „Der wichtigste Punkt ist: Wir haben die Technologie, um mit Pilzen und innovativen Biomaterialien nachhaltig zu verändern, wie wir Städte bauen“, schließt Huynh. „Politische Maßnahmen oder steuerliche Anreize könnten große Unternehmen motivieren, Pilz- und andere Biomaterialien stärker in Betracht zu ziehen.“

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