FRAU IN FÜHRUNGSPOSITION

Man könnte mit dem Schaum im Mund beginnen. Er stammt aus einem Feuerlöscher und ist das Erste, an das sich Sophia Flörsch erinnert, wenn sie an den Unfall denkt, bei dem sie mit 276 Sachen rückwärts in ein Fotografenhaus krachte.
Oder man steigt ein knappes Jahr später ein, auf den letzten Kilometern des Berlin-Marathons, bei dem es schüttet und ihr bei jedem Schritt die Knie wehtun, als ob gleich die Kniescheiben rausspringen.
Man könnte auch viel früher anfangen, als Flörsch gerade 14 ist und der Vater ihres Teamkollegen auf einer Rennstrecke auf sie zukommt und sagt: „Was machst du überhaupt hier? Ein Mädchen, im Motorsport?!“
Oder man beginnt in der Zukunft, an einem Sonntag, an dem sie ihr Ziel erreicht hat, ganz oben auf dem Treppchen steht und eine Champagnerflasche köpft – als erste Siegerin eines Rennens in der Formel 1 oder Formel E.
Vielleicht startet die Erzählung über Sophia Flörsch aber auch einfach im Hier und Jetzt, an einem frühsommerlichen Donnerstag, im Wohnzimmer eines Bungalows in Pullach bei München, in dem Deutschlands schnellste Rennfahrerin mit ihrer Schwester und ihrem Vater lebt. Im Schneidersitz hockt sie auf einer hellen Sofalandschaft. Sie trägt einen weißen Kapuzenpullover mit einem schwarzen Herz auf der Brust, dazu silberne Ringe, ihre Fingernägelsind pink lackiert.
Sophia Flörsch, geboren am 1. Dezember 2000, mit neun Jahren Kart-Europameisterin, mit 15 die erste Frau auf dem Podium der ADAC Formel 4. Jetzt, mit 20, startet sie als eine von zwei Pilotinnen in der DTM – und auch das soll nur ein Boxenstopp sein auf dem Weg zu ihrem großen Ziel. Sophia Flörsch will als erste Frau ein Rennen in der Königsklasse gewinnen.
Das Mädchen, das die Machowelt des Motorsports aufmischt: Das ist die Geschichte, wegen der das Fernsehen sie seit Kindertagen begleitet und wegen der erst am Vortag eine Reporterin der Süddeutschen da war. Wenn über ihre Karriere berichtet wird, geht es immer auch um die drängenden Debatten unserer Zeit, um Gleichberechtigung, Chancengleichheit und Emanzipation. Aber wird diese Erzählung der jungen Rennfahrerin gerecht? Oder ist gerade der Fokus auf ihr Frausein Teil des Problems?
„Am Anfang habe ich gar nicht gemerkt, dass ich gegen Jungs fahre.“
„Am Anfang habe ich gar nicht gemerkt, dass ich gegen Jungs fahre“, erzählt sie, während draußen ein Mähroboter über den Rasen schleicht. Sie war vier, als ihr Vater sie das erste Mal mit auf die Kartbahn nahm, um ihr Kurvengefühl für die Skisaison zu schulen. „Mir war damals gar nicht bewusst, dass ich da als Mädchen etwas Besonderes war“, sagt sie. Und eigentlich spielt ihr Geschlecht für sie auf der Rennstrecke bis heute keine Rolle. Flörsch will einfach gegen die Besten antreten – und das sind bisweilen nun einmal meistens Männer.
Trotzdem merkte sie früh, dass manche sie im Motorsport als Fremdkörper wahrnahmen. „Weißt du, wie schlimm es ist, von einem Mädchen überholt zu werden?“, fragte einmal einer ihrer Gegner, nur halb im Spaß. Ein anderes Mal kam der Vater ihres Teamkollegen zu ihr und sagte ihr ins Gesicht, dass es für ein „Mädchen“ unmöglich sei, Formel 1 zu fahren. Flörsch verstand nicht, was der Mann wollte. „Was hatte der gegen mich? Was hatte der gegen meinen Traum?“ Heute glaubt sie, dass die Ablehnung des Mannes auch daher rührte, dass sie im Ranking vor seinem Sohn lag.
Noch immer durchziehen Vorurteile gegen Frauen am Steuer den Rennsport, von der Kinder-Kartbahn bis in den Chefsessel der Königsklasse: „Ich glaube nicht, dass eine Frau die körperlichen Voraussetzungen hätte, um ein Formel-1-Auto schnell zu fahren“, sagte 2016 der damalige Formel-1-Boss Bernie Ecclestone. „Und sie würde auch sicher nicht ernst genommen werden.“
In Rennwagen wirken gewaltige Fliehkräfte auf die Piloten ein – in der Formel 1 sind es in Kurven bis zu 5 g, also das Fünffache des eigenen Körpergewichts. Die Fahrer brauchen deshalb eine kräftige Oberkörpermuskulatur. „Da muss ich mehr trainieren als die Männer“, sagt Sophia Flörsch. Sechs Mal die Woche schuftet sie zwei bis drei Stunden im Fitnessstudio. Entscheidend ist im Rennsport aber nicht die Maximalkraft, sondern die Kraftausdauer – und beim Durchhaltevermögen gibt es nicht viele Männer, die es mit Sophia Flörsch aufnehmen können. Noch am Morgen des Gesprächs hat sie eine Spritze Hyaluronsäure ins rechte Knie bekommen, in dem sich immer wieder Wasser sammelt: eine Folge des Berlin-Marathons im September 2019. Der Lauf war eine Idee eines Sponsors, sie hat spontan zugesagt, obwohl sie nie länger als die halbe Distanz gelaufen war. Ab Kilometer 30 wurde es schmerzhaft, und das Gefühl mit den herausspringenden Kniescheiben war gar nicht so abwegig: Am Ende trug sie einen Knorpelschaden und einen Meniskusanriss davon. Hat sie nie daran gedacht aufzuhören? „Nee, Aufgeben ist nicht meins. Wenn ich mir was in den Kopf setze, ziehe ich das durch.“
„Mein Kind ist stur“, wird ihr Vater sagen, als Flörsch schon wieder auf dem Weg ins Fitnessstudio ist. Er hat sein Immobiliengeschäft aufgegeben, um seine Tochter durch den Rennzirkus zu begleiten. Alle zwei Wochen fuhr er sie zu Kartrennen quer durch Italien, die Schulaufgaben erledigte sie auf dem Beifahrersitz. Heute schwingt Stolz mit, wenn er von der Beharrlichkeit seiner Tochter spricht: „Das Schlimmste ist ihr Kopf: Wenn sie sich was vornimmt, macht sie das auch, zu 100 Prozent, ohne Rücksicht auf Verluste.“
Wie entschlossen die Rennfahrerin Sophia Flörsch ihre Ziele verfolgt, weiß die Welt spätestens seit ihrem Crash. Es war ein Aufprall, der eher an einen Flugzeugabsturz erinnert als an einen Autounfall. Das Handyvideo eines Zuschauers verbreitete sich binnen Minuten um die Welt: Es ist eine dieser Aufnahmen, die man erst gar nicht begreift, weil alles so schnell geht und das Auge nicht folgen kann und weil man selbst dann, wenn man erkennt, was geschieht, nicht glauben will, was man sieht.
Es ist der 18. November 2018, Grand Prix der Formel 3 auf dem Stadtkurs von Macau. Das Fahrerfeld ist dicht beisammen, am Ende einer langen Geraden geht es in eine enge Rechtskurve. Einer nach dem anderen biegt in gedrosseltem Tempo in die Kurve – als plötzlich etwas von rechts durchs Bild fliegt, kaum mehr als ein Schatten. In der Zeitlupe erkennt man: Es ist der Mercedes von Sophia Flörsch, damals 17 Jahre alt. Er schießt mit dem Heck voran über die anderen Wagen hinweg und kracht in drei Meter Höhe in ein Fotografenhaus. Nicht nur ihre Mutter, die das Video zu Hause in München sieht, ist sich sicher: Sophia ist tot.
Aber Sophia sitzt da, im Cockpit, quicklebendig, bei vollem Bewusstsein, das Gesicht mit dem Schaum des ausgelösten Bordfeuerlöschers bedeckt. Dessen bitteren Geschmack wird sie die ganze Nacht im Mund behalten, auf der Intensivstation des Krankenhauses, in dem sie auf einer Stahlplatte fixiert auf ihre Operation wartet. Flörsch darf weder essen noch trinken, weil das zu einer Schwellung am zertrümmerten siebten Halswirbel führen könnte, der auf den halb zerquetschten Wirbelkanal drückt. Auch schlafen darf sie nicht, weil die Ärzte ständig überwachen müssen, ob sie ihre Zehen und Finger noch spürt.
Der Eingriff, der am nächsten Morgen beginnt, dauert elf Stunden. Die Ärzte operieren durch den Hals, vorbei an den Nerven der Sinnesorgane. Am Ende verschrauben sie die gebrochenen und zusammengeflickten Halswirbel mit einer Titanplatte. Nach acht Tagen verlässt Sophia Flörsch das Krankenhaus. Nach 100 Tagen steigt sie wieder in den Rennwagen – der schönste Tag ihres Lebens, wie sie später sagen wird. Im Februar 2020 schließlich wird Sophia Flörsch in Berlin mit dem Laureus World Sports Award ausgezeichnet. Im Publikum applaudieren ihr Boris Becker, Dirk Nowitzki und Lewis Hamilton, siebenmaliger Formel-1-Weltmeister.
Sophia Flörsch, da muss sich Bernie Ecclestone keine Sorgen machen, wird ganz sicher ernst genommen. Und eigentlich bräuchte es den Hinweis auf ihr Geschlecht gar nicht, um ihre Geschichte zu erzählen. Aber natürlich liegt ein Reiz an diesem scheinbaren Widerspruch von pinken Fingernägeln und ölverschmierten Mechanikerhänden, von der Schönen und dem 600 PS starken Biest, von der Frau, die sich ihren Weg durch eine Machowelt bahnt, in der Frauen oft nur Zierde sind und als Grid-Girls in engen Höschen auf die Strecke geschickt werden, um den Fahrern den Sonnenschirm zu halten.
Auf ihrem Instagram-Account demonstriert Sophia Flörsch, dass dieser Widerspruch gar keiner ist: Ihren fast 500.000 Followern zeigt sie sich im Rennanzug am Steuer, aber auch leicht bekleidet beim Training oder im Bikini vor türkisblauem Meer. Anders aber als bei Lewis Hamilton, der in Unterwäsche seine tätowierte Brust präsentiert, titeln die Medien bei ihr: „Wie sexy darf eine Rennfahrerin sein?“ Und anders als Hamilton wird sie mit 15 von potenziellen Sponsoren auf ihre Familienplanung angesprochen. „Die haben mich damals gefragt, ob ich einen Freund habe und Kinder will“, erzählt Flörsch. Familienplanung? Mit 15? „Darüber hatte ich mir nie Gedanken gemacht.“
Vielleicht ist der Motorsport also gerade deshalb ein gutes Beispiel, weil er gar nicht erst so tut, als ob es Chancengleichheit gäbe. Am Ende entscheiden weniger Talent und Einsatz über Sieg und Niederlage, sondern vielmehr die Trainingsbedingungen, die Technik, das Auto, kurz: das Geld. Und das bekommen in der Regel noch immer die Männer. „Als Frau ist es schwer, Sponsoren zu finden“, sagt Sophia Flörsch. Weil es keine erfolgreichen Vorbilder gibt, keine Formel-1-Weltmeisterin. Weil man es den Frauen, trotz aller Respektsbekundungen, dann irgendwie doch nicht zutraut. Nicht mal ihr, Sophia Flörsch, dem Inbegriff einer Frau in Führungsposition.
Aber sie ist nicht der Typ, der sich über solche Widrigkeiten beschweren würde. Nicht über skeptische Sponsoren, nicht über sexistische Kommentare von Formel-1-Bossen und auch nicht über die Rolle, in die sie so oft gedrängt wird: die Heldin, die sich mit wallendem Haar gegen die Männer auflehnt und die Machowelt mit ihren pinken Fingernägeln aufmischt. Sie antwortet lieber auf der Piste. Wie damals, bei ihrem ersten Formel-4-Rennen.
17. April 2016, Motorsport Arena Oschersleben: Sophia Flörsch, gerade 15 Jahre alt, hat der Konkurrenz das ganze Rennen über Paroli geboten, darunter Mick Schumacher, Spross von Michael und seit 2021 Formel-1-Pilot. Zwischenzeitlich ist sie in Führung gegangen, als erste Frau der Geschichte. Nun, zu Beginn der letzten Runde, liegt sie auf Rang drei. Eine 15-Jährige auf dem Treppchen – es wäre eine Sensation! Dann setzt der Niederländer Job van Uitert zum Überholmanöver an, wo kein Platz zum Überholen ist. Sein Wagen setzt auf ihren Hinterreifen auf und rasiert ihren Heckflügel, Flörsch dreht sich und bleibt im Kiesbett stehen. Vom Streckenrand aus muss sie zusehen, wie die Konkurrenz an ihr vorbeizieht.
Und was macht sie? Fährt an und biegt zurück auf die Strecke, ohne Heckflügel. „Guck sich das einer an“, ruft der Fernsehkommentator, ganz außer sich. „Den Mut zu haben, nachdem du das Weiße im Auge deines Gegners gesehen hast!“ Platz drei ist futsch, aber Fünfte ist sie noch. Kurve für Kurve macht sie sich breit, trotz ramponiertem Heck.
Bis zur Ziellinie kommt keiner mehr an ihr vorbei.