Das Zukunftsmagazin von TÜV SÜD

KANN STORYTELLING DIE WELT RETTEN?

TEXT NILS WISCHMEYER, DAVID LÜTKE
FOTO JOE WILSON

—— Eine gute Geschichte hat die Kraft, alles zu verändern. Die Menschen, die Welt – und vielleicht auch das Thema Nachhaltigkeit. Drei Beispiele dafür, welchen Impact Storytelling haben kann.

Wer etwas bewegen will, der braucht gute Ideen, viel Ausdauer – und eine glaubhafte Geschichte. Viele der ganz großen Veränderungen, an die wir uns erinnern können, beginnen daher mit einer hervorragenden Story. Kein Wunder: Der Mensch hat Geschichten schon immer geliebt. Das Gehirn braucht sie, um die Komplexität einer chaotischen Welt zu reduzieren – und um sich emotional an eine Sache zu binden. „Storys verknüpfen die tieferen emotionalen Zentren im Gehirn“, erklärt der Psychologe Dr. Hans-Georg Häusel vom Spezialberatungsunternehmen Nymphenburg Consult, „insbesondere das limbische System mit dem Großhirn, das für Erinnerungen, Handlungs- und Zukunftsplanung zuständig ist.” 

Wenn historisch gesehen gesellschaftliche Bewegungen bedeutende Ereignisse und Umschwünge auslösen, dann meist unter dem kollektiven Banner einer gemeinsamen Geschichte. Und auch im Nachklang bleiben diese Geschichten oft so präsent, dass sie heute am bloßen Titel erkannt werden: Wir sind ein Volk. Yes we can. Skolstrejk för klimatet. 

Gerade mit Blick auf das Erreichen von ökologischer Nachhaltigkeit kann Storytelling ein wichtiges Werkzeug sein. Denn um die wissenschaftlich ermittelten und definierten Klimaziele erreichen zu können, ist eine gemeinschaftliche globale Anstrengung nötig. Dies funktioniert nur, wenn viele Menschen auf der ganzen Welt von der Notwendigkeit von Veränderungen überzeugt sind. Sie zu motivieren und auf gemeinsame Ziele einzuschwören, geschieht am besten mit einer inspirierenden Geschichte. „Die Dinge beim Thema Nachhaltigkeit sind oft grau und komplex,“ sagt Nachhaltigkeitsexperte Harald Willenbrock von der Marken- und Kommunikationsagentur Strichpunkt. „Eine gute Story hilft, diese komplizierten Zusammenhänge verständlich, merkbar und emotionaler zu vermitteln.“ Gerade im Bereich Nachhaltigkeit sei Storytelling deshalb wichtig, sagt Willenbrock. Was für eine nachhaltige Wirkung sich mit Geschichten bereits im Kleinen erzielen lässt, zeigen bereits einige Beispiele eindrucksvoll. 

Chasing Ice

2012 erschien die Doku „Chasing Ice“. Der Film begleitet den Fotografen James Balog dabei, den Gletscherschwund zu dokumentieren. Die Filmemacher selbst nennen als Motivation für ihren Film den Wunsch, im ersten Schritt Aufmerksamkeit auf das Thema lenken zu wollen. Im zweiten Schritt wollen sie aufzeigen, an wie vielen Stellschrauben jeder Mensch im Alltag drehen könne, um dem Klimawandel entgegenzuwirken. Der Film ist so packend erzählt, dass er mehrere Preise gewann. Der Impact war groß – und messbar: Laut Umfragen vor der Aufführung gaben nur 61 Prozent der Befragten an, an den Klimawandel zu glauben. Nach der Aufführung waren es bereits 75 Prozent. Die Zahl der Menschen, die den Klimawandel als Problem erkannt haben, stieg nach der Aufführung von 27,8 Prozent auf 45,9 Prozent. Der Film inspirierte die Gründung von Unternehmen mit nachhaltiger Agenda, zum Kauf von Elektroautos und zu politischen Veränderungen. 2016 gewann der Film den docimpactaward

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The Ocean Cleanup

Boyan Slat ist noch ein Teenager, als er 2012 im niederländischen Delft auf der Bühne der Talkreihe TEDx steht und von seinen Taucherlebnissen erzählt. Er erzählt, ohne Statistiken und Zahlen vorzutragen. Er erzählt, als säßen vor ihm im Publikum nur gute Freunde, denen man ein paar Urlaubsfotos zeigt. Sie sehen einen Mantarochen, einen Hai – und dann Strände voller Müll und Vögel, die an Plastik starben. Es ist der Start eines Vortrags, der 11 Minuten dauert und in dem er das erste Mal seine große Vision vorstellt: The Ocean Cleanup, eine Non-Profit-Organisation, die Kunststoff aus den Meeren fischt. Es hätte eine Start-up-Präsentation unter vielen sein können. Doch Boyans persönliche Erlebnisse sind eindrücklich und überzeugen Investoren, die daraufhin Millionen für die Umsetzung seiner Idee geben. Mehr als zehn Jahre später beschäftigt The Ocean Cleanup 120 Menschen aus Forschung und Wissenschaft. Die Boote der Organisation konnten bis 2021 mehr als 460 Tonnen Kunststoffmüll aus den Meeren holen. 

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Bear 71

Großen Bedarf für Umweltschutz gibt es immer dort, wo die Lebensräume von Wildtieren und Mensch sich überschneiden. Doch meistens werden die Probleme aus menschlicher Sicht erzählt: sauberes Trinkwasser, gute Luft, unverbaute Panoramen. Eine innovative Webdoku beeindruckte bereits 2012 mit virtueller Interaktivität und einer multimedial erzählten, faszinierenden Geschichte. „Bear 71“, gelauncht vom National Film Board of Canada, erzählt emotional berührend die Geschichte eines wilden Grizzlybären in den Weiten eines kanadischen Reservats. Eine weitflächige 3D-Topografie lässt sich in vielen Details durch Anklicken von Videoschnipseln erforschen, während wir der Bärin folgen. Diese wird zu Beginn mit einem Peilsender markiert und erzählt aus eigener Perspektive vom schönen, aufregenden, aber auch verwirrenden und gefährlichen Leben. Ihre Umgebung ist ein Naturschutzgebiet, aber Autobahnen, Züge, Müll und Tourismus engen den Lebensraum der Bärin immer stärker ein. Das Erstaunliche: Die Geschichte hebt keinen Zeigefinger – doch wer die etwa halbstündige Doku mit trockenen Augen durchsteht, hat nicht richtig aufgepasst.

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