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CANNABIS IM STRASSENVERKEHR

TEXT TORSTEN SCHLEGEL
FOTO STOCKSY/WIZEMARK, PRIVAT

—— Für Autofahrer ändert sich durch die Entkriminalisierung von Cannabis weniger als vielleicht vermutet. TÜV SÜD-Verkehrspsychologe Thomas Wicke spricht über die Aussagekraft von Grenzwerten, Schwierigkeiten in der Forschung und warum man im Zweifel das Auto lieber länger stehen lassen sollte.

Herr Wicke, können Sie uns einen Überblick zur aktuellen Situation von Cannabis im Straßenverkehr geben?
———— Cannabis ist die am häufigsten konsumierte illegale Droge in Deutschland. Die Forschung geht davon aus, dass rund zwei Drittel aller drogenauffälligen Fahrten unter dem Einfluss von Cannabis stattfinden. Die Begutachtungszahlen bei der Medizinisch-Psychologischen Untersuchung sind in den Jahren 2010 bis 2022 von 15.000 auf 27.000 angestiegen, der größte Anstieg war dabei auf dem Cannabis-Sektor, während die Zahlen beim Alkohol rückläufig sind. Cannabis ist zu einer Lifestyle-Droge geworden und taucht daher auch immer öfter im Straßenverkehr auf.
Welche Entwicklung erwarten Sie durch die Entkriminalisierung?
———— Ich gehe von einem noch stärkeren Anstieg der Zahlen aus, allein aufgrund der höheren Verfügbarkeit und dem einfacheren Erwerb. Ein großes Problem hierbei ist allerdings die Beurteilung der Fahrtüchtigkeit. Bei Alkoholkonsum begeht man ab einem Blutalkoholwert von 0,5 Promille eine Ordnungswidrigkeit, ab 1,1 Promille wird die Person als vollständig fahruntüchtig gewertet. Bei Cannabis haben wir vergleichbare Werte nicht.
Das bringt uns zum Thema „Grenzwerte“ – wie wird damit aktuell umgegangen?
———— Gemessen wird beim Cannabis der sogenannte Tetrahydrocannabinol-Wert, kurz: THC. Der Stand der Dinge ist, dass man bei 1,0 Nanogramm pro Milliliter Blutkonzentration eine Ordnungswidrigkeit begeht. Dieser Wert ist umstritten, da er sehr niedrig angesetzt ist. Es wird auch ein Wert von 3 Nanogramm diskutiert. Ich würde aber behaupten, dass beide Werte nicht ausreichend wissenschaftlich fundiert sind. Es fehlt an systematischer Forschung, die beantwortet, ab wann das Unfallrisiko tatsächlich ansteigt. Durch die sehr schwer nachvollziehbaren Stoffwechselvorgänge beim Cannabis kann man durch den THC-Wert allein nur schwer beurteilen, wie sehr jemand beeinträchtigt ist. Bis hier mehr Klarheit herrscht, sollte man meiner Meinung nach die Verkehrssicherheit priorisieren und lieber einen niedrigeren Grenzwert beibehalten. Tetrahydrocannabinol
Cannabis lässt sich im Blut auch über die Beeinträchtigungsphase hinaus nachweisen. Welche Schwierigkeiten ergeben sich daraus?
———— Es lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, dass eine Person mit 10 Nanogramm THC im Blut gefährlicher fährt als jemand mit 2 Nanogramm. Nach einer Studie fallen die Unterschiede teils weniger gravierend aus, als man meinen könnte. Deshalb ist die Definition eines Grenzwertes so schwierig. Es muss noch viel mehr zum Thema geforscht werden, aber bisher hatte man es mit einer illegalen Substanz zu tun. Man konnte also keine direkten Studien durchführen.
Bei Alkohol wissen die meisten Menschen, ab wann der geltende Grenzwert überschritten wird – man kann sich an gewissen Faustregeln orientieren. Existiert so etwas für Cannabis auch?
———— Genau das kann es leider nicht geben. Um relativ sicher zu sein, dass ich kein THC mehr im Blut habe, muss ich mindestens drei Tage abwarten, wenn nicht länger. Das Konsumverhalten hat bei Cannabis einen entscheidenden Einfluss auf die Länge der Nachweisbarkeit. Dazu kommt, dass ich bei Cannabis viel schlechter abschätzen kann, wie viel Inhaltsstoff ich zu mir genommen habe. Es könnte notwendig werden, dass zum Beispiel nur bestimmte Sorten angebaut werden dürfen, um die Konzentration und damit die Wirkungsdauer besser einschätzen zu können.

"Ich befürchte, dass es bei einigen Menschen nicht richtig ankommt, dass sich für den Straßenverkehr an der Legalität nichts Grundlegendes ändern wird."

Nach dem aktuellen Grenzwert könnte man also nicht am Wochenende Cannabis konsumieren und dann am Montag mit dem Auto zur Arbeit fahren?
———— Man kann nur empfehlen, Cannabis extrem selten zu konsumieren, wenn man es denn unbedingt will. Denn wer regelmäßig konsumiert, kommt überhaupt nicht mehr unter den Grenzwert von 1,0 Nanogramm. Dazu fehlt mir momentan auch noch eine umfänglichere Kommunikation an die Bevölkerung. Ich befürchte, dass es bei einigen Menschen nicht richtig ankommt, dass sich für den Straßenverkehr an der Legalität nichts Grundlegendes ändern wird.
Was können wir aus anderen Ländern lernen, in denen eine Legalisierung oder Entkriminalisierung bereits stattgefunden hat?
———— Leider nicht sehr viel. Wir schauen bei dem Thema oft auf die Niederlande, aber von dort kenne ich keine Befunde zum Straßenverkehr. Auch aus anderen Ländern gibt es sehr wenig Forschung zum Thema Cannabis und Straßenverkehr. Ein Grund dafür könnte sein, dass die Unfallzahlen durch Alkoholbeeinflussung weiterhin deutlich größer sind und daher der wissenschaftliche Fokus dementsprechend dort liegt. In Deutschland sollten wir nun die Gelegenheit nutzen, um aussagekräftige Daten zu gewinnen. Wir sollten in der Unfallstatistik explizit erfassen, wer unter Cannabis auffällig wird. Ein sinnvoller Grenzwert muss besser erforscht werden und wir brauchen ausreichende Ressourcen für die Überwachung, um herauszufinden wie sich die Zahlen entwickeln.
In welchen Gebieten ist TÜV SÜD von dem Thema Verkehrssicherheit und den Auswirkungen der Entkriminalisierung berührt?
———— Die Sparte der Begutachtung kann ihre Erfahrungen aus den Begutachtungen der Kraftfahrer einbringen. Ob zum Beispiel mehr schwerwiegende Fälle auftreten oder nicht. Ich bin im Bereich der Beratung tätig. Wir kommen erst ins Spiel, wenn Fehler bereits passiert sind und unterstützen Menschen dabei, ihr Konsumverhalten zu ändern und letztendlich wieder mobil zu werden.
Wie viele Menschen, die ihren Führerschein aufgrund von Cannabis abgeben mussten, schaffen es, ihn wieder zurückzuerlangen?
———— Die Erfolgsrate ist sehr gut. Denn sie müssen begleitend immer auch beweisen, dass sie abstinent leben, also kein Konsum mehr stattfindet. Das ist häufig auch nachhaltig, die Rückfallquote liegt lediglich bei 4,5 Prozent.

Thomas Wicke ist Verkehrspsychologe und seit 2008 fachlicher Leiter von TÜV SÜD Pluspunkt. Mit Schulungen und Kursen hilft er Menschen, die beispielsweise unter Beeinträchtigung durch Alkohol oder Drogen ihren Führerschein verloren haben, ihr Verhalten im Straßenverkehr nachhaltig positiv zu verändern. Dies ist die Grundvoraussetzung, um über eine Medizinisch-Psychologische Untersuchung die Fahrerlaubnis wiederzuerlangen.

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