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„EINE TEAMSITZUNG MUSS SICH NICHT KUSCHELIG ANFÜHLEN“

—— Teams brauchen Sicherheit, um innovativ zu sein, genauer gesagt: psychologische Sicherheit. Die Schweizer Arbeitspsychologin Prof. Dr. Ina Goller hat das Konzept erforscht und erklärt im Interview, wie es funktioniert, wie es Teams schützt und wie sie es anwenden – und warum erbitterter Streit dazugehören muss.

TEXT FELIX ENZIAN
FOTO ANNE MORGENSTERN

Frau Prof. Goller, bei Innovation denkt man gern an Mut, an Risiko, aber nicht an Sicherheit. Wann ist Ihnen klar geworden, dass psychologische Sicherheit vielleicht viel wichtiger ist?
———— Am Beginn meines Berufslebens war ich zu Gast in einem Management-Team in einem Unternehmen, um einen Workshop zu moderieren. Ich erlebte ein Strategiemeeting, bei dem es richtig rundgegangen ist und die Teammitglieder erbittert gestritten haben. So jedenfalls war zunächst meine Wahrnehmung. Doch am Ende haben die Teilnehmer sich für die tolle Diskussion bedankt, ihre Learnings zusammengefasst und sind gut gelaunt zusammen abendessen gegangen. Diese Erfahrung hat mich überrascht und tief beeindruckt.

Was haben Sie daraus gelernt?
———— Eine Teamsitzung muss sich nicht kuschelig anfühlen. Im Gegenteil: Zu viel Harmonie kann notwendige Diskussionen ersticken, weil man fürchtet, jemanden durch Widerspruch oder Kritik zu kränken. Nur durch einen offenen Meinungsaustausch entstehen neue Sichtweisen und neue Lösungen. Auseinandersetzungen sind produktiv und wertvoll.
Sie nennen das dahinterliegende Konzept psychologische Sicherheit. Wie muss man sich das vorstellen?
———— Es geht um Beziehungen. Wenn Menschen in einem Meeting miteinander sprechen, lassen sie immer soziale Bewertungen im Kopf mitlaufen: Wie wohlgesinnt sind mir die anderen? Wie reagieren sie, wenn ich eine Idee preisgebe oder einen Fehler eingestehe? Erhalte ich Unterstützung oder Kritik? Wird meine Idee aufgegriffen, blockiert oder eventuell geklaut? Halten die anderen meine Bemerkung vielleicht für dumm? Solche Risiken und Bedenken führen oft dazu, dass jemand seine Meinung lieber für sich behält. Je weniger Angst die Teammitglieder haben, dass ihre Äußerungen negative Konsequenzen haben, desto sicherer fühlen sie sich psychologisch und desto leichter bringen sie sich in die Diskussion ein. Die Pionierin auf diesem Forschungsgebiet ist Amy Edmondson, eine Managementprofessorin an der Harvard Business School. Sie nennt Teams, in denen psychologische Sicherheit herrscht, auch „fearless organisations“, also angstfreie Organisationen.
Wagnisse eingehen, offen sein für Neues, Fehler machen: All das klingt nach der bekannten Fehlerkultur. Wo unterscheidet sich die psychologische Sicherheit von diesem Konzept?
———— Fehlerkultur betrifft die Gesamtorganisation eines Unternehmens. Es geht um die Implementierung von Mechanismen, die dabei helfen, dass Mitarbeiter Probleme im Unternehmen angstfrei ansprechen und aus Fehlern lernen können. Psychologische Sicherheit dagegen findet auf der Ebene von einzelnen Teams statt. Denn Teams sind die Innovationsknotenpunkte der heutigen Arbeitswelt. Sie sind die Denkfabriken, in denen neue Ideen und Strategien geboren und debattiert werden. Es gibt kaum noch Herausforderungen, die ein Einzelner alleine bewältigen kann. Man ist immer auf die Unterstützung von Teamkollegen angewiesen. Deswegen ist die Frage, wie wir im Team miteinander umgehen, so wichtig.
Welche Rolle spielen Führungspersonen dabei?
———— Gerade die unmittelbare Führungsperson im Team hat einen erheblichen Einfluss darauf, ob angstfrei gesprochen wird oder nicht. Psychologische Sicherheit kann daher nicht nur durch die oberste Führungsebene gefördert oder verhindert werden, sondern auch stark durch das mittlere Management. Zugleich ist die Bereitschaft, Wagnisse in Meetings einzugehen und sich offen zu äußern, etwas, wofür jeder Einzelne sich entscheiden und wofür geworben werden muss.

Fühlt sich mein Team also psychologisch sicher, entstehen daraus Innovationen. Stimmt das so?
———— Psychologische Sicherheit allein reicht definitiv nicht aus, um innovativ zu sein. Sie fördert zwar die Menge, aber nicht unbedingt die Güte der Ideen. Die Qualität der Arbeitsergebnisse wird vor allem von drei Faktoren bestimmt: einer Vision, an die das ganze Team glaubt, Durchhaltevermögen, auch in schwierigen Phasen, und Fachkompetenz. Ohne die geht es nicht.

„Die Sprechverteilung ist ein guter Indikator, um psychologische Sicherheit zu messen.“

Prof. Dr. Ina Goller
Gerade Start-ups gelten als innovativ. Liegt das immerhin zum Teil daran, dass Start-ups mehr psychologische Sicherheit haben als große Unternehmen?
———— Zumindest am Anfang. Start-ups charakterisiert meist, dass hier eine kleine verschworene Gruppe eine gemeinsame Vision verfolgt. Zwar gibt es dort in Stresssituationen viel Uneinigkeit. Sie kann aber in der Regel leicht behoben werden, weil die gemeinsame Idee die Teammitglieder so stark verbindet. Doch sobald das Start-up wächst, werden auch die Fliehkräfte größer und die psychologische Sicherheit leidet darunter. Themen wie Arbeitsbelastung, Konkurrenzkampf und Hierarchien treten stärker in den Vordergrund und können die verbindende Vision überschatten. Diese kritische Größe wird erreicht, sobald das Unternehmen rund 20 Mitarbeiter hat und in mehrere Entwicklungsteams zerfällt.
An welchen Anzeichen merken Sie, dass in einem Team die psychologische Sicherheit zerfällt oder gar fehlt?
———— Ein untrügliches Zeichen ist es, wenn im Meeting einer spricht und alle anderen schweigen. Dann handelt es sich um eine problematische, psychologisch unsichere Situation – es sei denn, jemand hält gerade einen Vortrag und danach folgt eine rege Debatte. Die Sprechverteilung ist ein guter Indikator, um psychologische Sicherheit zu messen. Meinungsaustausch lebt davon, dass alle gleich viel zu Wort kommen – unabhängig von Hierarchien.
Wie sieht das in den meisten Unternehmen heute aus?
———— Die Realität in vielen Unternehmen ist eine andere. Redeanteile in Meetings sind mit Machtverhältnissen verknüpft. In der Regel sind es die Vorgesetzten, die buchstäblich am meisten zu sagen haben. In psychologisch unsicheren Teams machen sich Mitglieder mit abweichenden Meinungen schnell unbeliebt. Deswegen ziehen viele lieber den Kopf ein. Selbst wenn Probleme tatsächlich angesprochen werden, handelt es sich oft um Scheindebatten, in denen die Sprecher sich gegenseitig recht geben, um eine vermeintliche Harmonie herzustellen.
Welche negativen Folgen hat denn psychologische Unsicherheit?
———— Durch Simulationen von medizinischen Operationen wissen wir, wie verheerend sich das Fehlen von psychologischer Sicherheit auswirkt. Wenn das OP-Team dem Oberarzt bei Entscheidungen kritiklos recht gibt, sterben mehr Patienten. Auch in der Wirtschaft hat es gravierende Folgen, wenn Missstände nicht hinterfragbar sind.
Lässt sich psychologische Sicherheit lernen?
———— Auf jeden Fall. In unseren Forschungen haben wir einen Baukasten von 24 Übungen entwickelt, die man in Teams 24 Wochen lang je 15 Minuten praktizieren soll.

Was für Kommunikationsübungen sind das zum Beispiel?
———— Teilweise sind sie sehr simpel, aber effektiv. Sowohl im englischsprachigen als auch im deutschsprachigen Raum neigen Diskussionsteilnehmer dazu, auf einen Vorschlag mit einem „Ja, aber …“ zu antworten. Diese Formulierung blockiert den konstruktiven Dialog. Deswegen trainieren wir, stattdessen „Ja, und …“ zu sagen. So können Meinungen aufeinander aufbauen und Ideen ungehindert fließen. Daneben gibt es auch komplexere Trainingseinheiten. Zum Beispiel üben wir, Verhandlungen kooperativ und hart zu führen. Vielen Menschen fällt das schwer. Sie glauben: Entweder verhandle ich hart und bekomme, was ich will. Oder ich bemühe mich um ein gutes Miteinander und gebe nach. Doch erfolgreiche Verhandlungen zeichnen sich durch ein Sowohl-als-Auch aus.
Sie haben Ihr Konzept auch in der Praxis erprobt. Wie waren die Resultate?
———— In der Praxis waren das Telekommunikationsunternehmen Swisscom, die Schweizerische Post, Schweizerische Bundesbahn, Switch, die Versicherung Die Mobiliar und der Onlinehändler Digitec Galaxus dabei. Viele der Teilnehmer zeigten sich erleichtert, dass psychologische Sicherheit nichts mit Harmonie oder Gefühlsseligkeit zu tun hat. Gerade in der Schweiz herrscht häufig eine sehr konsensorientierte und damit eher konfliktvermeidende Unternehmenskultur. Doch in Teams, wo nur gekuschelt wird, entstehen keine disruptiven Ideen.

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