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„ZU HOHE TRANSPARENZ SORGT DAFÜR, DASS INFORMATIONEN UNSICHTBAR WERDEN.“

—— Die ganze Welt wäre gern transparent, zumindest fordern das alle. Sascha Friesike erklärt, warum das oft schiefgeht und es viel mehr aufs richtige Maß an Transparenz ankommt.

Portraitfoto von Sascha Friesike mit Brille und Bart in einem grauen Sweater, der aus blauen Augen in die Kamera blickt.

TEXT NILS WISCHMEYER
FOTO STOCKSY/MARIA ALTYNBAEVA

Herr Friesike, die Forderungen von Unternehmen und Politikern ähneln sich: Wir brauchen mehr Transparenz. Woher kommt dieser Drang?
———— Das hat zwei Gründe. Nummer eins: Der Begriff der Transparenz ist wahnsinnig positiv aufgeladen. Alle verbinden damit etwas Gutes und niemand würde kritisieren, dass jemand anderes mehr Transparenz fordert. Praktisch in jeder Situation kann man deshalb Transparenz fordern, ganz gleich, wie sinnvoll das wirklich ist. Nummer zwei: Wir haben heute technische Möglichkeiten, mit denen es relativ einfach ist, etwas transparent zu machen. Daten lassen sich verschicken oder verlinken und so können wir sie leicht anderen Menschen zugänglich machen.
Das klingt doch super.
———— Jein, Transparenz ist kein Selbstzweck. Das ist ein wenig wie bei Fenstern. Niemand sammelt Fenster, niemand sagt, wir müssen die Zahl der Fenster erhöhen. Fenster sind immer Mittel zum Zweck. Wir wollen damit nach draußen gucken, wir wollen lüften, vor allem wollen wir, dass Licht reinkommt. Genau so ist die Transparenz auch nichts anderes als ein Mittel, um einen Zweck zu erreichen. Wenn wir einfach nur Transparenz herstellen, dann kann das dem eigentlichen Zweck sogar schaden. Wir müssen Transparenz also zielgerichtet einsetzen.
Was kann so ein Zweck sein?
———— Es gibt im Prinzip zwei klassische Gründe für mehr Transparenz. Zum einen ist das die „Accountability“, also die Rechenschaft. Hier will ich mit mehr Transparenz dafür sorgen, dass jemand zeigt, dass er oder sie das Richtige tut. Das wird beispielsweise im Politischen gern gefordert. Politikerinnen und Politiker sollen dann zeigen, dass sie einen guten Job machen, und um das zu überprüfen, sind wir schnell bei der Forderung nach mehr Transparenz. Und dann gibt es den Faktor der Sichtbarkeit. Hier soll Transparenz Informationen offenlegen, zum Beispiel, damit wir bessere, also informiertere Entscheidungen treffen können. Amüsanterweise geht die Wissenschaft in beiden Fällen nicht davon aus, dass mehr Transparenz automatisch zum Ziel führt. Das Verhältnis ist komplexer. 
Bleiben wir für den Moment bei der Sichtbarkeit. Warum sollte mehr Transparenz nicht zu mehr Sichtbarkeit führen? 
———— Es gibt hier das sogenannte Transparenz-Paradox. Das beschreibt, dass sich Transparenz und Sichtbarkeit nicht linear zueinander verhalten. Mehr Transparenz führt also nicht zwangsläufig zu mehr Sichtbarkeit. Wenn wir die Begriffe auf zwei Achsen auftragen, sehen wir eher eine Berg-und-Tal-Fahrt. Die Sichtbarkeit steigt mit steigender Transparenz bis zu einem gewissen Punkt und fällt dann ab. Denn irgendwann ist ein Punkt erreicht, zu dem es zu viele Daten, zu viele Informationen gibt. Die sind zwar transparent, aber für uns nicht mehr zu überblicken. Und das sorgt dafür, dass die Inhalte unsichtbarer werden. 
Foto eines Fensters aus dem Inneren eines Raumes aufgenommen. Drei der Fenstergläser sind gelblich-milchig und eines fehlt. Dort wo das Glas fehlt, wird der Blick auf ein Meer und seine wellige Wasseroberfläche frei.

„Wenn das Ziel ist, dass der Kunde bessere Entscheidungen trifft, dann muss ich dafür den richtigen Grad an Transparenz wählen.“

Das klingt sehr abstrakt. Können Sie ein Beispiel nennen? 
———— Ich gehe regelmäßig mit meiner vierjährigen Tochter einkaufen. Im Supermarkt will sie dann eine knallbunte Getränkeflasche haben und ich muss ad hoc entscheiden, welche dieser Flaschen jetzt die Gesündeste ist für so ein kleines Kind. Im Kleingedruckten sind natürlich die Inhaltsstoffe aufgeführt, es herrscht also ein hohes Maß an Transparenz. Nur hilft mir das in der Situation nicht, weil ich nicht spontan verstehe, dass Glukosesirup einfach Zucker ist und wieviel 10 Gramm auf 100 Milliliter hochgerechnet auf eine ganze Flasche eigentlich sind. Ganz zu schweigen davon, dass ich noch alle Flaschen miteinander vergleichen müsste. Die für mich wichtige Information verschwindet also hinter ganz vielen anderen. Die Lösung wäre vielleicht eine Lebensmittelampel für Kindernahrung, die mir direkt anzeigt: Grün ist gesund, Orange geht so und Rot sollte eigentlich gar nicht verkauft werden. Hier führt also eine Aggregation von Informationen zu einer besseren Entscheidung. Es geht also immer um das richtige Maß an Transparenz, das wir oft erst durch eine Zusammenfassung, Simplifizierung oder eine Visualisierung herstellen können. Ich muss mich also immer fragen: Was ist mein Ziel? Wozu möchte ich etwas transparent machen? Wenn das ehrliche Ziel ist, dass ich als Kunde bessere Kaufentscheidungen treffe, dann muss ich dafür den richtigen Grad an Transparenz finden.
Wie findet man denn diesen richtigen Grad an Transparenz? 
———— Das ist schwierig, pauschal zu beantworten. Aber aus meiner Erfahrung fängt es damit an, die richtigen Fragen zu stellen, in unserem Beispiel etwa die Konsumenten zu befragen: Habt ihr hier eine Informationsflut oder fehlen euch Informationen? Die Kunden können das meist einschätzen. Darüber hinaus muss ich beim Design einer Aggregation den Kontext bedenken: Wie viel Zeit hat jemand im Supermarkt, um eine Entscheidung zu treffen, und welches Vorwissen kann ich voraussetzen? Hier ist es wichtig, dass die Menschen sich darüber Gedanken machen, wenn sie einen Prozess oder ein Produkt transparenter machen wollen. Es geht ja fast nie darum, etwas für die Person transparent zu machen, die sich sehr gut auskennt, sondern für Leute, die nur Teile des Ganzen verstehen.
Im Digitalen ist der Wunsch nach Transparenz besonders häufig zu finden. Hilft sie da mehr? 
———— Oft wird auch dort zu viel Transparenz gefordert. In der analogen Welt, zum Beispiel bei einer Verpackung, ist der Platz für Transparenz ja begrenzt. Sie können einfach irgendwann nicht noch mehr draufschreiben. Im Digitalen ist das anders. Schauen Sie einfach in die Datenschutzbestimmungen ihrer sozialen Netzwerke. Da steht alles drin, was Sie wissen müssten, sehr transparent alles. Aber das hat Buchlänge. Niemand liest das und doch klicken alle auf „habe ich gelesen und verstanden“. Die Sichtbarkeit ist hier noch viel geringer, weil man vermutlich Tage bräuchte, das zu verstehen. Unter dem Deckmantel der Transparenz entsteht etwas, das am Ende im Grunde unsichtbar ist.
Sie haben vorhin auch von der Accountability, der Rechenschaft, gesprochen. Wie verhält sich diese zur Transparenz? 
———— Transparenz kann auch etwas sein, das jemand fordert, um andere zu überprüfen. Beispielsweise möchte ein Arbeitgeber gern wissen, ob jemand im Büro das tut, was er soll. Sie können ihren Mitarbeitenden ja aber nicht die ganze Zeit über die Schulter gucken. Daher aggregieren Sie Daten und dann passiert etwas ganz Menschliches: Ihre Mitarbeitenden fangen an, sich Gedanken zu machen. Wenn das System beispielsweise die Mausbewegung des PCs verfolgt und diese misst, wird jemand auf die Idee kommen, die Maus zu bewegen, auch wenn man gerade nicht arbeitet. Der Wunsch nach mehr Transparenz kann hier also durchaus dazu führen, dass Menschen ihre Energie in die Überlistung des Systems stecken, anstatt in die Arbeit, die eigentlich transparent gemacht werden sollte.
Schauen wir noch einmal ins Büro. Dort ist der Trend zu offenen Büros und Co-Working-Spaces nicht mehr aufzuhalten, auch sie sollen zu einer transparenteren Kommunikation führen. Klappt das?
———— Tatsächlich ist der Drang nach mehr Transparenz ein großer Treiber unserer heutigen Büroarchitektur: viel Glas, viele offene Flächen. Das Ziel ist dabei eigentlich immer das gleiche: Die Menschen sollen offener sein und der Kommunikationsfluss soll transparenter werden. Das geht aber leider auch gern schief. Es gibt eine viel zitierte Studie, die zeigt, dass die Face-to-Face-Kommunikation in solchen Büros nicht steigt, sondern im Gegenteil drastisch abnimmt. In der Studie sind es 70 Prozent! Der Grund: Das ständige Gerede nervt andere und oft will man Dinge auch nicht in der großen Gruppe besprechen. Am Ende kann so ein Büro zu einem Panoptikum werden, in dem man sich nicht mehr traut zu reden und stattdessen E-Mails schreibt. Dabei ist die Lösung auch hier, ein gesundes Maß zu finden. Es braucht am Ende eine Mischform aus offenem Büro und geschlossenen Räumen, die so viel Transparenz erlaubt, wie eben in dem bestimmten Kontext wirklich sinnvoll ist.

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