Das Zukunftsmagazin von TÜV SÜD

VISION: KRABBELTIERE AUS DER VIRTUELLEN REALITÄT ZUM ANFASSEN

—— Die Mid-Air-Haptics-Technologie macht fühlbar, was es eigentlich nur in der virtuellen Realität gibt. Anwendungsgebiete gibt es zuhauf – einige davon sind ein wenig gewöhnungsbedürftig.

Illustration einer Hand mit einem emporragenden Zeigefinger, auf dem eine Spinne sitzt.

ILLUSTRATION JANELLE BARONE

Die meisten Smartphone-Besitzer kennen das: Wenn sie eine Nummer eintippen, spüren sie eine Vibration, sobald ihre Fingerspitzen den Bildschirm berühren. Mit diesem haptischen Feedback, so der Fachbegriff, soll dem Smartphone-User die Illusion gegeben werden, er bediene eine echte Tastatur.

Diese Verbindung von physischer und digitaler Welt wollen nun einige Forscher und Unternehmen auf ein nächstes Level bringen. Die Mid-Air-Haptics-Technologie, so der Name, soll Nutzern ermöglichen, gleichzeitig das zu fühlen, was sie sonst nur in der virtuellen Realität oder am Bildschirm sehen. Kommt jemand mit einer Virtual-Reality-Brille beispielsweise in einem Spiel in Kontakt mit Wasser, soll sich das wirklich feucht anfühlen.

Die Mid-Air-Haptik könnte das nächste große Ding  im Bereich Digitalisierung werden. Schon jetzt prognostiziert das Marktforschungsunternehmen VPA Research für 2026, dass der Markt für haptische Technologien ein Volumen von 28 Milliarden US-Dollar erreichen wird. 2020 wurde der Markt noch auf 13,8 Milliarden US-Dollar geschätzt.

Wie die neuartige Technologie genau funktioniert, erklärt Andreas Noll, der an der Technischen Universität München zu haptischer Technologie forscht. „Wer über einen Stoff streicht, spürt eine Art Vibration auf der Haut, die sich je nach Textur unterschiedlich anfühlt“, sagt er. Genau das würde sich auch die Mid-Air-Haptics-Technologie zunutze machen, nur, dass die Vibration hier künstlich erzeugt würde, meist mithilfe von Ultraschallwellen.

Diese werden von mehreren Ultraschall-Lautsprechern mit einem Durchmesser von etwa einem Zentimeter erzeugt. Die Ultraschall-Lautsprecher können sich im Laptop befinden oder sind in einer Art Tablet verbaut und können an den Computer oder die Virtual-Reality-Brille angeschlossen werden. Nähert sich eine Hand dem Gerät, dann wird diese mithilfe von Laserscannern oder Kameras erkannt. Die Schallwellen aus den Lautsprechern erzeugen dann Druckpunkte auf der Haut, die beim Nutzer die Illusion erwecken, er würde gerade eine bestimmte Oberfläche berühren.

„Die Mid-Air-Haptics-Technologie könnte zum Beispiel bei der Behandlung verschiedener Phobien, etwa vor Spinnen, nützlich sein.“

Claudio Pacchierotti, Haptikforscher am CNRS

Einer der bekanntesten Hersteller, die mit der Haptics-Technologie arbeiten, ist Ultraleap. Gemeinsam mit dem Nationalen Forschungszentrum Frankreich (CNRS) arbeitet das britische Unternehmen an einem von der Europäischen Union finanzierten Forschungsprojekt mit dem Namen E-TEXTURES. Das Ziel: Die Technologie zu kommerzialisieren und für verschiedene Anwendungsgebiete nutzbar zu machen.

Claudio Pacchierotti, der als Haptikforscher am CNRS arbeitet und das Projekt begleitet, sieht unzählige Einsatzmöglichkeiten: „Die Mid-Air-Haptics-Technologie könnte zum Beispiel bei der Behandlung verschiedener Phobien, etwa vor Spinnen, nützlich sein“, sagt er. Mit den Ultraschallwellen und Bildern von Spinnen in der Virtual-Reality-Brille soll der Patient so das Gefühl bekommen, echte Spinnen zu sehen und zu berühren – als eine Art Schocktherapie. Eine andere Anwendungsmöglichkeit sei das Online-Shopping. Dem Nutzer sei es mithilfe der Technologie möglich, auch den Stoff des Kleides zu erfühlen und es nicht nur zu sehen. Gerade bei teurer Kleidung sei das schonender, als wenn sie mehrere Kunden direkt im Geschäft anfassen würden.

„Die Mid-Air-Haptik-Technologie ist immer dann nützlich, wenn eine Person ein Objekt fühlen, aber nicht berühren soll, oder wenn wir visuellen oder akustischen Erfahrungen eine neue Dimension hinzufügen wollen, um sie fesselnder und unvergesslicher zu machen“, sagt Pacchierotti.

Doch wie weit ist die Technologie schon tatsächlich? Derzeit können Forscher sie schon einsetzen, um die Illusion von Regen oder Schnee auf der Haut, also von beweglichen Partikeln, zu erzeugen. Ebenso sei sie geeignet, um die Beschaffenheit verschiedener Materialien zu fühlen, allerdings nicht jedes bisher bekannte. Forscher Pachhierotti ist jedoch überzeugt: „Das wird keine Nischentechnologie bleiben“. 

WEITERE ARTIKEL