Das Zukunftsmagazin von TÜV SÜD

FUTURE FLASHES

—— Überall auf der Welt verändert die Digitalisierung das alltägliche Leben. Dabei wirkt sie sich ganz unterschiedlich auf die Menschen aus. Und selbst die Technologie bleibt nicht, wie sie ist. Drei außergewöhnliche Perspektiven auf das Leben von morgen.

TEXT FELIX ENZIAN
ILLUSTRATION SEÑOR SALME

Ein Sommertag im Jahr 2040. Autonome Fahrzeuge surren durch die Innenstadt. An Schnellladesäulen tanken sie sich selbstständig mit Energie aus Windkraftparks auf. Menschen eilen zu einem Pop-up-Büro auf einer Wiese. Ihre Aufgaben nach den Vorgaben der künstlichen Intelligenz arbeiten sie auf mobilen Rechnern ab. So oder so ähnlich ist die Zukunft schon oft beschrieben worden. Vor allem die Digitalisierung befeuert die Vorstellungen, wie sich Technologie, Gesellschaft und Alltag der Menschen verändern. Allerdings erfolgt die Auseinandersetzung mit zu­kunfts­­­trächtigen Entwicklungen oft unter eingeschränkten Blickwinkeln. Journalisten fragen vor allem danach, wie wir uns in Zukunft fortbewegen, unseren Energiebedarf stillen und arbeiten werden. Meistens überwiegt die Perspektive wirtschaftlich weit entwickelter Industrieländer. Als Role Model des künftigen Menschen dient vornehmlich der berufstätige Erwachsene.

Die Lebenswelt von morgen wird jedochsehr viele Facetten und differierende Erfahrungshorizonte haben. Eine angemessene Vorstellung davon ergibt sich nur, wenn die Welt aus möglichst vielen Per­spektiven betrachtet wird. Denn der Fortschritt wirkt sich nicht überall und für jeden Einzelnen gleich aus. Aspekte wie Lebensalter, Herkunft, Bildung, Einkommen und Geschlecht haben starken Ein-fluss darauf, wie ein Mensch seinen Alltag wahrnehmen wird. Wir blicken deswegen aus drei ungewöhnlichen Perspektiven auf die Aspekte des Lebens von morgen, um eine Idee davon zu bekommen, wie die Zukunft der Kindheit, die Entwicklungen im Globalen Süden und die künftige Form des Internets aussehen könnten.

Illustration Kinder mit Tablets im Kinderzimmer der Zukunft

Perspektive 1: Behält die Kindheit ihren ZAUBER?

Hassan hat Autos aus Kastanienschalen gebastelt. Sein Spielkamerad Yussuf hat eine Weltkugel auf Papier gemalt. Mit diesen Requisiten sollen die beiden kleinen Jungen einen Trickfilm drehen. Eine Pädagogin reicht ihnen dafür ein Tablet und erklärt, wie die Kamera funktioniert. Alltag im Kindergarten St. Josef in München: Hier wird digitale Bildung schon für Drei- bis Sechsjährige propagiert. Der Gedanke dahinter: Kinder sind heute viel zu viel passivem und unbeaufsichtigtem Medienkonsum ausgesetzt, der schädlich für ihre Entwicklung sein kann – vor allem durch Videos, Social Media und Computerspiele im Internet. Deswegen sollen schon die Jüngsten lernen, digitale Medien sinnvoll zu verwenden. Selbst wenn das heißt, dass kleine Kinder noch mehr Zeit vor dem Bildschirm verbringen. Daher ruft der Ansatz auch Kritiker auf den Plan. Sie befürchten, dass der häufige Umgang mit elektronischen Medien negativ auf die Entwicklung der Wahrnehmung, Kreativität und Intelligenz wirken könnte, und fordern eine möglichst von digitalen Medien freie Kindheit.

Frank Niklas, Professor für Pädagogische Psychologie und Familienforschung an der Ludwig-Maximilians-Universität München, sieht den frühen Medienkonsum weniger dramatisch. „Ob Tablet oder Würfelspiel, E-Book oder gedrucktes Buch: Beim Lernen macht das Medium keinen Unterschied“, sagt er. Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen sei eine Mediennutzung von zwei bis drei Stunden täglich auch im Kindergartenalter unproblematisch. Das Spielen und Lernen am Bildschirm habe sogar positive Effekte, sofern die Kinder altersgerechte Lernsoftware anwandten und mit Erwachsenen oder älteren Kindern interagierten: „Sie schulen so ihre kommunikativen Fähigkeiten und zugleich ihre Medienkompetenz“, argumentiert Niklas.

Kindheit – das sagen die meisten Prognosen – wird in den kommenden Jahren auf der ganzen Welt und über Kulturkreise sowie soziale Schichten hinweg immer mehr am Bildschirm stattfinden, da die Digitalisierung den gesamten Planeten erfasst. In Deutschland beispielsweise sind Kinder pro Tag im Durchschnitt 2,4 Stunden online. Ältere Jugendliche sind am Wochenende sogar vier Stunden täglich auf Social Media und Internetseiten unterwegs. In den USA, wo sich neue Entwicklungen der Mediennutzung oft früher abzeichnen als in anderen Ländern, liegt die durchschnittliche Bildschirmzeit von Teenagern sogar bei sieben Stunden und 22 Minuten pro Tag. Die Nutzung von Computer, Smartphone und Co. in der Schule oder für Hausaufgaben muss zu dieser Zahl noch addiert werden. Das bedeutet: Den größten Teil ihrer wachen Zeit widmen diese Kinder den digitalen Medien. Die Vorstellung, was Kindsein im Alltag ausmacht, ändert sich damit radikal. Viele Menschen verbinden mit Kindheit immer noch vor allem das Spielen im Freien oder mit traditionellem Spielzeug, unbeeinflusst vom technologischen Fortschritt. Diese Fantasie entspricht allerdings schon lange nicht mehr der Realität, sondern ist oft eine romantisierende Verklärung der Kindheit. Vor Jahrzehnten haben Radio, Fernsehen und Computer in die Kinderzimmer Einzug gehalten. Jede neue Technologie weckte Befürchtungen bei den älteren Generationen. Inzwischen weiß man durch die neurobiologische Forschung allerdings, dass die Risiken für die kindliche Entwicklung nicht in den Medien selbst liegen, sondern in der Art, wie diese im Elternhaus genutzt werden.

„Medienkonsum von Kindern ist dann problematisch, wenn dafür zum Beispiel soziale oder sportliche Aktivitäten vernachlässigt werden. Das Problem ist also nicht das Medium selbst, sondern die einseitige Fokussierung“, erklärt Familienforscher Frank Niklas. Er rät Eltern dazu, ihre Kinder nicht zu oft am Bildschirm alleine zu lassen, sondern mit ihnen Aktivitäten zu unternehmen – und dabei handyfreie Zeiten einzuplanen. Welche positiven oder negativen Einflüsse Kinder durch die Digitalisierung erfahren, hängt also stark davon ab, was ihre erwachsenen Bezugspersonen ihnen vorleben. Wer diese Bezugspersonen sind, unterliegt ebenfalls dem Wandel. Die Kindheit der Zukunft wird weniger durch die traditionelle Kernfamilie – Mutter, Vater, Kind – determiniert sein, auch wenn dieses Familienmodell weiterhin vorherrschen wird. Neue Formen des Zusammenlebens gewinnen daneben an Bedeutung. Dazu zählen die Patchworkfamilie, Familien mit gleichgeschlechtlichen und alleinerziehenden Eltern sowie das Co-Parenting.

Wie die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in ihrem Bericht „The Future of Families to 2030“ schreibt, könnte die Auflösung des klassischen Familienbildes zu mehr sozialer Unsicherheit führen. Zugleich bestehe die Chance, dass sich stabile größere familiäre Solidargemeinschaften bilden, die mehrere Partnerschaften und Generationen umfassen. Ein Bindeglied dieser Gemeinschaften könnten die digitalen Medien sein: Sie ermöglichen es räumlich getrennten Familienmitgliedern, in engem Kontakt zu bleiben – zum Wohle der Kinder. Ob die Kindheit ihren Zauber auch in Zukunft behält, wird sich also nicht nur an der Nutzung digitaler Technologien zeigen, sondern mindestens genauso stark an dem, was man Familie und sozialen Zusammenhalt nennt.

Illustration Vorsprung Technologien globaler Süden

Perspektive 2: Holt der SÜDEN auf?

Schreibtisch reiht sich an Schreibtisch, Bildschirm an Bildschirm. Davor sitzt jeweils ein Mensch und tippt eilig Buchstaben. Das Klackern vieler Tastaturen erfüllt den Raum. In einem reichen Industrieland würde dieses Großraumbüro womöglich als Bürohölle gelten, hier in Uganda jedoch bedeutet es Hoffnung. Die Ostafrikaner, die an den Computern arbeiten, hatten bis vor Kurzem kaum Zugangschancen zu Bildung und Arbeitsmarkt. Etliche wurden als Kindersoldaten in den Bürgerkrieg gezwungen. Mehr als die Hälfte der Büroarbeiter sind Frauen, die oft zum ersten Mal in ihrem Leben außerhalb von Hausarbeit und Landwirtschaft berufstätig sind.
Ihre Finger tippen zum Beispiel „Rihanna“, „Meghan Markle“ oder „Tom Cruise“. Im Auftrag einer großen amerikanischen Bildagentur beschriften sie digitale Fotos von Prominenten. Crowdwork heißt diese Form der Arbeit am Computer. Die Aufgaben erfordern meist wenige Vorkenntnisse. Sie können an jedem Ort der Welt ausgeführt werden, an dem ein Internetzugang und ein Rechner zur Verfügung stehen. Für wirtschaftsschwache Regionen im Globalen Süden könnten Crowdwork und andere digitale Dienstleistungen eine Chance sein, Anschluss zu den hoch entwickelten Informationsgesellschaften des Nordens zu finden.

Institutionen der internationalen Entwicklungshilfe setzen darauf, dass die Vernetzung in strukturschwachen Ländern Afrikas und Südostasiens voranschreitet und viele positive Effekte mit sich bringt. Sie hoffen, dass die Digitalisierung Innovationen, Bildungswesen, Arbeitsmärkte und Demokratisierungsprozesse in den bislang von hoher Armut und Instabilität betroffenen südlichen Weltregionen anschiebt. Allerdings bringt der technologische Fortschritt für den Globalen Süden auch erhebliche wirtschaftliche Risiken mit sich. Ein Grund dafür ist die voranschreitende Automatisierung der Arbeitswelt. Sie wird den Verlauf von Wertschöpfungsketten weltweit verändern.
Während international agierende Konzerne des Nordens bisher viele Produktionsprozesse in den Süden outgesourct und somit dort Arbeitsplätze geschaffen haben, könnte sich dieser Trend nun umkehren. Wenn Roboter menschliche Arbeit ersetzen und Lohnkosten kaum noch eine Rolle spielen, könnte es für Industrieunternehmen günstiger sein, ihre Produktion wieder in die Nähe der Heimatmärkte zu verlegen.

Nach Schätzungen der Weltbank sind beispielsweise in Indien zwei von drei Arbeitsplätzen durch die ­Automatisierung bedroht. Es ist schwer vorstellbar, dass neue Jobs in der Digitalwirtschaft Verluste dieser Größenordnung ausgleichen können. Kritiker bemängeln außerdem, dass die Gewinne der digitalen Ökonomie sehr ungleich verteilt ­seien. Der größte Teil der Wertschöpfung fließe Unternehmen des Globalen Nordens zu, während in entwicklungsschwachen Ländern wenig von den Erlösen bleibe.
Sven Hilbig, Referent für Welthandel der Nichtregierungsorganisation Brot für die Welt, verurteilt wirtschaftspolitische Vorstöße der USA, die darauf abzielen, dass digitale Produkte zollfrei gehandelt werden können. „Die rechtliche Zementierung eines unbegrenzten, grenzüberschreitenden Datenflusses würde die Entwicklungs- und Schwellenländer einer der wertvollsten Ressourcen berauben, die sie besitzen: ihrer Daten“, argumentiert Hilbig in seinem Aufsatz „Auswirkungen der Digitalisierung auf den Globalen Süden“. Aus seiner Sicht würden vom digitalen Freihandel vor allem die global dominierenden IT-Konzerne profitieren.

Nutzlos ist die Digitalisierung für den Globalen Süden trotzdem nicht. Der Prozess, der vor keinem Land und vor keiner Branche haltmacht, eröffnet neue Potenziale auch in traditionellen Wirtschaftszweigen – nicht zuletzt in der Landwirtschaft.
Etwa nahe der Siedlung Achiase in Ghana. Hier pflanzt Ben Owusu auf seiner Farm in Atakosuasu Kakaofrüchte, Kochbananen und Taropflanzen an, um sie auf Märkten zu verkaufen. Seit 25 Jahren erzielt er mit harter Arbeit ein bescheidenes Auskommen. Doch seine ausgedehnte Plantage auf fünf Hektar Fläche könnte bei moderner Bewirtschaftung deutlich höhere Erträge abwerfen. Deshalb nutzt Owusu jetzt die Dienste von Farmerline. Dieses Agritech-Start-up wurde von und für Bauern in Ghana entwickelt. Es stellt aktuelle Wettervorhersagen, Marktpreise und andere nützliche Informationen für die Landwirtschaft zur Verfügung. Der Service ist per Sprachnachricht in vielen lokalen Dialekten verfügbar. So können alle Bauern in Ghana die Informationen verstehen.
„Wenn ich morgens zu meiner Plantage fahre, weiß ich jetzt, ob ich meine Pflanzen bewässern muss. Das erleichtert mir meine Arbeit“, erzählt ­Kakaobauer Ben Owusu. Für die Verbesserung der Wirtschaftslage im Ghana mag dies nur ein kleiner Schritt sein. Aber es ist einer von vielen kleinen Schritten, mit denen die Digitalisierung den ­S­üden und die Welt verändert.

Illustration einer Frau, um die verschiedene Dinge, wie eine Weltkugel oder ein Gebäude kreisen.

Perspektive 3: Wie VERÄNDERT das Internet seine FORM?

Bereits der Schriftsteller Mark Twain wusste, wie knifflig es ist, in die Zukunft zu sehen. „Prognosen sind schwierig, besonders, wenn sie die Zukunft betreffen“, soll Twain formuliert haben. Ein Bonmont, das auch die Veränderungen durch die Digitalisierung korrekt beschreibt: Wer zum Beispiel hat vor 20 Jahren – als das Internet bereits mehr als ein Jahrzehnt alt war – die enormen Auswirkungen des World Wide Web auf unsere Gesellschaft vorhergesehen? Damals hatte das Internet noch den Charakter einer Servicehotline, die sporadisch für Einzelfragen kontaktiert wurde: Modem einschalten, dem piepsenden Verbindungsaufbau lauschen und schnell die Fußballergebnisse nachsehen. Anschließend aber bloß nicht das Ausloggen vergessen, denn die Onlinezeit wurde noch per Minutenpreis abgerechnet. Das Einwählen in die virtuelle Welt war zu dieser Zeit für die meisten noch ein kurzer Besuch, nach dem man ins analoge Leben zurückkehrte.
Dann traten Flatrates, höhere Datenraten, Smartphones, leistungsstarke mobile Datennetze und soziale Netzwerke in unser Leben und setzten eine Entwicklung in Gang, die noch lange nicht zu Ende ist: Das Internet ist kein Besuchsort mehr, sondern wird zur Realität, die immer weitere Teile unseres Lebens bestimmt.

Diese Entwicklung beschleunigt sich so sehr, dass das Netz im Jahr 2040 komplett mit uns verschmolzen sein könnte, wie eine Sphäre, die uns immer und überall umgibt. Mit Gesten swipen Menschen dann durch Datenströme hindurch. Videos flimmern als dreidimensionales Hologramm in der Luft. Der Computer und das Handy werden abgelöst von Nano-Implantaten in der Iris und unter der Haut. Statt über Touchscreens oder Tastaturen navigieren wir durch unsere Gedankenimpulse durchs Netz.

„Wir befinden uns kurz vor einer neuen Ära“, prophezeit der Innovationsforscher Sebastian Raßmann vom Beratungsunternehmen Trendone. Durch die Kombination von künstlicher Intelligenz, 5G-Funknetzen und Biotechnologie werde eine vollkommen neue Form des Internets entstehen. Während die 2020er-Jahre noch Teil der in den 1970er-Jahren gestarteten Computer-Ära sind, steht laut Raßmann schon bald die Ära der Super-Intelligenz in Form eines neuen Internets an. Wearables, die schon heute Datenströme direkt am Körper empfangen und spürbar machen, werden in dieser Ära direkt unter die Haut verpflanzt. Das Internet wächst mit unseren Körpern zusammen. Zeitgleich vergrößert sich das Internet der Dinge. Fast jeder Gegenstand sendet und empfängt Daten, die bei Bedarf mit Augmented-Reality-Brillen erfasst werden können. Das Internet der Zukunft ermöglicht, dass die menschliche Wahrnehmung mit der gesamten Umwelt verschmilzt. Eine allumfassende virtuelle Realität entsteht. Angetrieben wird diese allumfassende virtuelle Realität durch Datenverbindungen, die immer schneller, stabiler und überall verfügbar werden. Mit seinem Projekt „Starlink“ treibt Elon Musk etwa ein Satellitennetzwerk für den globalen Internetempfang voran. Der ganze Planet ist „always on“. Durch diese Netze wird selbst digitales Gedankenlesen ermöglicht. Durch Gedankenimpulse können zunächst Menschen mit Handycap Prothesen steuern, später ziehen Anwendungen für die Allgemeinheit nach.

Bei alldem werden wir in Zukunft noch mehr digitale Spuren hinterlassen als heute schon. Unternehmen nutzen sie, um ihre Produkte noch raffinierter auf ­individuelle Kundenbedürfnisse zuzuschneiden. Immer leistungsstärkere Algorithmen ermöglichen immer individualisiertere Angebote. Irgendwann halten Unternehmen die passenden Produkte für ihre Kunden bereits dann bereit, wenn die noch gar nicht wissen, dass sie die Artikel bald kaufen werden. Was sich heute bereits durch einzelne Trends und Technologien andeutet, wird sich in den nächsten Jahrzehnten also immer stärker miteinander verzahnen – und schließlich eine ganz neue Art von Internet bilden. Spätestens dann wird das neue Netz allumfassend und im Vergleich zu unserer heutigen Wahrnehmung erst wirklich omnipräsent in unser Leben getreten sein. Die analoge und digitale Welt werden kaum noch voneinander trennbar sein.

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