Das Zukunftsmagazin von TÜV SÜD

WARUM GIBT ES NORMEN?

—— Von Klimaanlage bis künstliche Intelligenz – für fast alles gibt es Normen. Wir zeigen, in welchen Bereichen sie uns besonders nützen und wie sie die globale Wirtschaft mitgestalten.

TEXT ANNA GAUTO

Wenn Heino Paga morgens zur Arbeit fährt und pünktlich um 6.30 Uhr am DIN-Platz in Berlin-Tiergarten aus seinem Auto steigt, ist es oft noch dunkel. Dank der Norm DIN 67528 (Beleuchtung öffentlicher Parkbauten) sieht er trotzdem genug. Dank DIN 18040-1 sind die Türrahmen des Deutschen Instituts für Normung (DIN), wo Paga arbeitet, so hoch, dass er sich mit seinen 1,90 Metern nicht den Kopf stößt.

Wenn Paga ins Gebäude des DIN eintritt, durchquert er ein helles Foyer und blickt auf elek­trische Tafeln, die erklären, warum Standards die Effizienz verbessern. Bevor er in den Aufzug steigt, muss er noch eine Treppe meistern. Zum Glück regelt DIN 18065 unter anderem die Laufbreite und das Steigungsverhältnis von Stufen, sodass Paga und seine Kollegen nicht stolpern. Den sicheren Transport im Lift regeln gleich zehn Normen. DIN 51130 sorgt dafür, dass Paga auf dem Fliesenboden am Liftausgang nicht ausgleitet, DIN EN 16516 regelt, dass der dunkle Flurteppich, der zu seinem Büro führt, kein Benzol oder Formaldehyd ausdünstet.

Meist fallen sie erst auf, wenn sie fehlen. Und doch wirken sie fast überall. Ohne sie würde Papier nicht in den Drucker passen (DIN A4, A3, A5), Kredit­karten nicht in den Geldbeutel, Container nicht auf Schiffe. Würstchen würden ständig durch Grillgitter plumpsen, Säuglinge an verschluckten Schnullern ersticken. Ohne Normen wäre der internationale Warenverkehr, die Globalisierung, wie wir sie heute kennen, nicht denkbar.

Bild von Baby auf Boden, das  von bunten Spielzeugklötzen und Tieren aus Holz umgeben ist.
DIN EN 71 legt die Spezifikationen für einen Testzylinder fest, mit dem geprüft wird, ob ein Spielzeug von einem Kind verschluckt werden kann.

NORMEN ÜBERALL

Auch in der Pandemie zeigt sich, wie unerlässlich gemeinsame Standards sind. In der Krise entschieden die europäischen Normungsorganisationen in Absprache mit der Europäischen Kommission, Normen für Medizinprodukte und persönliche Schutzausrüstung kostenlos zur Verfügung zu stellen. Gerade zu Beginn der Pandemie konnte Europa damit den Mangel an Schutzmasken und -handschuhen ein Stück weit ausgleichen. Statt selbst herumzutüfteln, waren nun auch fachfremde Hersteller in der Lage, dringend benötigte Ausrüstung wie Atemmasken zu fertigen. Dabei halfen wichtige Angaben wie in DIN EN 149, der Norm für FFP2-Schutzmasken. Die Hersteller konnten nicht nur schnell und in großen Mengen produzieren, sondern hatten auch das Vertrauen von Politik und Verbrauchern.

Normen gelten als Siegel für Qualität und Sicherheit – und das weltweit. Neben nationalen Normungsorganisationen wie dem deutschen DIN gibt es supranationale Organisationen wie das Europäische Komitee für Normung (CEN), das die Europäische Norm  (EN) festsetzt, und die Internationale Organisation für Normung (ISO), die sich um die internationale Harmonisierung von Standards kümmert. Je mehr Kürzel eine Norm besitzt (DIN EN ISO), auf desto mehr Ebenen ist sie gültig. Unabhängige Unternehmen wie TÜV SÜD prüfen schließlich, ob ein Produkt die Anforderungen des jeweiligen Standards erfüllt.

Die Digitalisierung setzt die Normlandschaft dabei unter Druck, da es für viele neue Technologien noch keine passenden Normen gibt. Brauchte die Wirtschaft Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem Standards für Schrauben, Muttern oder Gewinde, der Elek­trotechnik und des Maschinenbaus, so benötigt sie heute Lösungen für Cybersecurity,  Blockchain, automatisiert fahrende Autos oder Schnittstellen für Stromnetze, die mit Maschinen oder Anlagen kommunizieren beziehungsweise im Haushalt mit Klimaanlagen, Heizungen oder Kühlschränken, und künstliche Intelligenz. Die Entwicklung einheitlicher Methoden und Standards für solche neuen Technologien dauert und ist schwierig, für manche dauert dieser Prozess zu lange und wirkt schwerfällig. Beim automatisierten Fahren etwa, seien derzeit noch viele Fragen offen, sagt Christian ­Priller, Head of Corporate Accreditation, Standardisation and Quality Management von TÜV SÜD. Wer hafte etwa bei Unfällen? „Und was passiert, wenn ein autonomes Fahrzeug eine Kollision nicht vermeiden kann, aber zwischen einem alten Menschen und einem Kinderwagen entscheiden muss?“ Der technischen Normenbildung müsse in solchen Fragen eine juristische und gesellschaftliche Meinungsbildung vorausgehen, sagt Priller. „Aktuell befinden sich Gesellschaft und Politik in vielen dieser Themen noch inmitten dieser ethisch-moralischer Diskussion.“

Ohne Normen keine Sicherheit

Maschine, die Eisablagerungen auf einem Flugzeug mit einem Strahl entfernt.
DIN EN 12312-6 beschreibt die technischen Anforderungen für Flugzeugenteiser und sorgt so für die Sicherheit der Fluggäste.

MARATHON STATT SPRINT

Gleichzeitig entscheiden die Entwicklung und Durchsetzung weltweit harmonisierter Standards über die Akzeptanz der Technologien bei Herstellern und Verbrauchern. Gemeinsam mit mehreren globalen Partnern hat TÜV SÜD deswegen etwa die International ­Alliance for Mobility Testing and Standardization gegründet. Das Ziel der Initiative: weltweit anerkannte Standards, Testszenarien und Prüfmethoden für die Mobilität von morgen entwickeln.

Am neu gegründeten TÜV AI Lab haben sich zudem Experten für künstliche Intelligenz aller TÜV-Organisationen zusammengeschlossen. Gemeinsam erforschen sie, wie sich künstliche Intelligenz sicherer machen lässt und welche Anforderungen sie erfüllen muss, um Grundrechte wie die Privatsphäre oder die Gleichbehandlung von Nutzern nicht zu verletzen. Wichtige Grundlagenforschung, denn selbst bei weniger komplizierten Produkten ist jeder Normungsprozess eher Marathon als Sprint. Um den Prozess von einer Idee bis zur fertigen Norm begleiten zu können, hat das DIN etwa ein Netzwerk aus 33.500 Experten aus Wirtschaft, Forschung, der Verbraucherseite und der öffentlicher Hand zusammengestellt, die über den Sinn und Unsinn neuer Regelungen streiten, bevor das DIN eine Norm veröffentlicht und ihre Anwendung empfiehlt.

Bild von weißem DIN-A4-Blatt auf grauem Untergrund.

Normpapier

DIN A4 definiert die größe eines Standard-Blattes (297 x 210 MM). Die ABOUT TRUST ist nicht nach DIN genormt, sondern erscheint ­im Format 280 x 210 MM.

Bei einer scheinbar trivialen Norm für die Sicherheit von Schulranzen sitzen sich so Hersteller von fluoreszierenden und lumineszierenden Flächen gegenüber, dazu Schulranzenhersteller, ein Prüfinstitut wie TÜV SÜD, das testet, ob die Ranzen das Licht im Straßenverkehr tatsächlich reflektieren, und Verbraucher. In solchen Runden werde selbst über Wortlaute in vermeintlich nebensächlichen Dokumenten gefeilscht und gerungen, erzählt Heino Paga, der DIN-Experte.  

Sein Job ist es, Redundanzen oder Widersprüche zu bestehenden Regelungen in den entworfenen Normen zu entdecken. Dafür leitet Paga am DIN die Gruppe Prozessqualität und Prüfung oder einfacher: die „DIN-Normenpolizei“. Paga, den seine Kollegen auch mal „den Erbsenzähler“ nennen, ein Titel, den man sich innerhalb eines Deutschen Instituts für Normung besonders hart verdienen muss, weiß, dass ein Schrägstrich zuweilen Ergebnis eines mühevoll, mitunter über Jahre errungenen Konsenses sein kann. Er würde ihn trotzdem aus einem fast fertigen Normenentwurf tilgen, wenn sonst Missverständnisse entstehen könnten.

Pagas Heilige Schrift für solche Fragen ist DIN 820-2. Das Dokument regelt, wie eine Norm aufgebaut, gestaltet und verfasst sein muss. Darin finden sich sogar Hinweise für Hilfsverben – etwa wann seine Normenpolizisten im Text „dürfen“ und wann sie „sollen“ oder „müssen“ zu verwenden haben.

„Normen bedeuten mir viel“, erzählt Paga. „Sie sorgen für Sicherheit, für Klarheit, und sie machen Produkte günstiger“, sagt er mit sanfter Stimme. Wer schon einmal fluchend vor dem Staubsauger gekniet hat, weil der Beutel wieder nicht passte, weiß, was Paga meint. Die Staubsaugerhersteller verdienen an der Uneinheitlichkeit immer neuer Beutelformate. Dasselbe gilt für Ladegeräte von Herstellern wie Apple. Für Paga ein Graus.

Bild einer weißen FFP2-Atemschutzmaske vor grauem Hintergund.

Sicher ist sicher

DIN EN 149 definiert die Norm für eine partikelfiltrierende Halbmaske, die nase, mund und das Kinn bedeckt.

KAMPF DER NORMEN

Schon die Römer hätten Wasserleitungen und Amphoren, die Container der Antike, genormt, erzählt er. Heute werde die Welt immer komplexer und Normen hülfen, alles etwas einfacher zu machen, davon ist Paga überzeugt. Spätestens mit der Industrialisierung wurden sie für die Wirtschaft unersetzlich. Dass es wie zur vorletzten Jahrhundertwende 25 Varianten für das Ventil einer Dampflok gab, ist heute undenkbar.

Und doch reißt die Kritik an Normen nicht ab. „Ein häufiger Vorwurf lautete“, schreibt der Technik­histo­riker Günther ­Luxbacher in einem Buch über das DIN, „dass Normen das alltägliche Leben uniformierten, dass sie ‚die Vielfalt des schönen Lebens in eine öde Gleichheit verwandeln‘.“ Wesentlich schwerer wiegt der Vorwurf, man könnte Normen missbrauchen, um Handel zu erschweren statt zu vereinfachen. Sogenannte nichttarifäre ­Handels­hemmnisse wie technische Standards, die auf den Zielmärkten gelten, können exportwilligen ­Unternehmen teure Konformi­täts- oder Anerkennungsverfahren ­aufzwingen – oder sie komplett aus dem Markt blocken. Schon in den 1930er-Jahren versuchten die US-Autobauer Ford und General Motors in den deutschen Ford- und Opel-Werken das amerikanische Maßsystem mit Zoll und Fuß einzuführen.

Zu ganz ähnlichen Querelen kam es noch vor einigen Jahren im deutsch-französischen „Steckerclinch“. Es fehlten einheitliche Standards für die Ladestecker von Elektroautos; die Franzosen wehrten sich erbittert gegen die deutschen Steckerformate. Erst die Europäische Kommission beendete den Streit, als sie 2014 den sogenannten Typ-2-Stecker durchsetzte, der vom deutschen Unternehmen Mennekes entwickelt worden war. Eine Entscheidung, die bei den Sauerländern die Sektkorken knallen ließ.

Stehender Kalender mit Monatsansicht September 2020 vor gelbem Hintergrund.
DIN ISO 8601 regelt weltweit, dass eine Kalenderwoche „ein Zeitintervall von sieben Tagen“ ist, „das an einem Montag beginnt“.

Ohne Konsens keinen Standard

Gestapelte Bücher mit Einmerkern vor rosa Hintergund.
DIN EN 45020 NORMIERT, WAS EINE NORM IST, nämlich ein „Dokument, das mit Konsens erstellt und von einer anerkannten Institution angenommen wurde und das für die allgemeine und wiederkehrende Anwendung Regeln, Leitlinien oder Merkmale für die Tätigkeiten oder deren Ergebnisse festlegt“.

NEUE MACHT DER STANDARDS

Bis heute müssen sich europäische Autobauer an US-amerikanische Standards anpassen, ob bei der Farbe der Blinker oder den Eigenschaften von Scheibenwischern. Gleichzeitig müssen ausländische Unternehmen solche Hindernisse in Europa überwinden. Mit China betritt ein weiterer mächtiger Akteur das Normenterrain. „Bisher waren die Chinesen eher Beobachter. Doch nun spielen sie massiv mit, etwa bei der Internationalen Organisation für Normung in Genf, wo sie ihre Inhalte in globale Standards einbringen wollen“, sagt Innovationsökonom Knut Blind. Chinas strategisches Ziel sei dabei, große Teile der Weltwirtschaft mit seinen Standards abzudecken, so Blind.

Während es früher einen Wettbewerb um Patente gab, seien heute Standards wichtiger. Mit ihnen, sagt Blind, „kann man gerade in Zeiten von Industrie 4.0 ganze Ökosysteme mitmanagen“. Das sei wichtiger, als Einzeltechnologien zu schützen, die sich am Ende vielleicht gar nicht durchsetzten. Der Stecker für das Elektroauto sei ein Beispiel – an ihm hängen gleichzeitig die Autos, die Infrastruktur mit der Ladestation oder die Energieversorger.

INTERESSE FÜRS KLEINGEDRUCKTE

Jemanden wie Heino Paga schmerzt es, wenn seine geliebten Normen für solche Machtspielchen herhalten müssen. Normen, findet er, sollten für Sicherheit sorgen, nicht für Unsicherheit. Ein „Kontrollfreak“ sei er nicht, sagt Paga, aber er hinterfrage nun einmal gern und interessiere sich auch fürs Kleingedruckte. Als er etwa vor einigen Jahren sein Haus baute, warf ihm die Behörde vor, zu hoch gebaut zu haben. Doch Paga hatte den Bebauungsplan und alle relevanten Vorschriften genau durchgearbeitet. Aus seiner Sicht irrte nicht er, sondern das Bauamt. Seine Antwort waren sieben eng beschriebene Seiten, auf denen er die Fehler des Amtes auflistete. Paga bekam recht.

DER WEG ZUR NORM

Lesen Sie hier, wie eine Norm entsteht: Der Weg zur Norm

FOTOS:

Getty Images/yuanyuan yan (Treppe); Getty Images/Image Source (Kind); iStock/Ceneri (Flugzeugenteiser); Adobe Stock/janvier (Maske); Getty Images/Nora Carol Photography (Kalender); Stocksy/Lauren Lee (Zettel)

WEITERE ARTIKEL