Das Zukunftsmagazin von TÜV SÜD

NUR NOCH KURZ DIE WELT RETTEN

—— Globale Probleme nehmen keine Rücksicht auf die aktuelle Corona-Pandemie. Umso größer ist unsere Verantwortung, sie jetzt nicht aus den Augen zu verlieren. Wir blicken auf vier gewaltige Herausforderungen – und stellen innovative Lösungsansätze für sie vor.

TEXT TANITA HECKING

In jenen Tagen, in denen ein neuartiges Virus die ganze Welt ins Koma versetzt, denkt Thomas Crowther in Zürich über Bäume und Steppen nach. Während die Menschen in die Supermärkte strömen, um Toilettenpapier zu kaufen, und ein Land nach dem anderen den Lockdown verhängt, füttert Crowther seine Computer mit Datensätzen zu Bodenproben und Baumarten und analysiert, wie viele Bäume er braucht, um genügend CO2 aus der Luft zu filtern. Auch wenn gerade eine andere Krise die Welt beherrscht, macht der Klimawandel keine Pause, weiß Crowther. Und den aufzuhalten, ist seine Mission. Die Bäume, die er pflanzen will, sollen seine Helfer dafür sein.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnt seit Jahren vor den verheerenden Folgen des Klimawandels. Zwischen 2030 und 2050 könnten jedes Jahr bis zu 250.000 Menschen an seinen Folgen sterben. Bis zu eine Million Tierarten sind durch die Klimaerwärmung vom Aussterben bedroht. Es drohen finanzielle Schäden, in deren Licht selbst die Verwerfungen der Corona-Pandemie überschaubar erscheinen.

Der Klimawandel ist nicht das einzige Problem, das derzeit in den Schatten gedrängt wird. Ob Infektionskrankheiten, menschenwürdiges Leben oder Umweltzerstörung: Auf der ganzen Welt schwelen Probleme weiter, die keine Rücksicht auf ein neues Virus nehmen. Gut, dass es Menschen wie Thomas Crowther gibt. Wir schauen auf innovative Ideen, mit denen Wissenschaftler und engagierte Zeitgenossen einige der drängendsten Probleme unserer Zeit lösen wollen.

Ein grüner Baum auf der Spitze eines grünen Hügels.

Mit der Natur für die Natur

PROBLEM: Klimawandel

Rund 300 Gigatonnen Kohlendioxid steigen jedes Jahr in die Atmosphäre auf und verhindern, dass Wärme ins Weltall entweichen kann. Das Ergebnis: Die Erde erwärmt sich immer mehr, Naturkatastrophen, zum Beispiel Dürren, Überflutungen oder Hitzewellen, nehmen zu, der Meeres­spiegel steigt an. Ganze Landstriche könnten so für Menschen und Tiere unbewohnbar werden, was verheerende soziale Verwerfungen auslösen könnte. Auch der finanzielle Schaden wäre enorm. Die Schäden durch steigende Temperaturen könnten sich laut Berechnungen des Economist bis 2050 auf bis zu drei Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts belaufen, sofern die Welt so weitermacht wie bisher. Das wären unvorstellbare 7,9 Trillionen US-Dollar.

Doch es gibt eine vergleichsweise einfache und kostengünstige Lösung: Bäume pflanzen – und alte Bestände bewahren. So simpel diese Strategie klingt, so effektiv wäre sie. Bäume binden Kohlendioxid und wandeln das Treibhausgas in Sauerstoff um. Wälder bieten Nahrung und Wasser für Millionen von Tierarten und den Menschen. Feuchtgebiete und Grasland fördern die biologische Vielfalt und schützen vor Überschwemmungen und Dürren.

„Die Wiederherstellung von Ökosystemen würde die Waldfläche weltweit um mehr als 25 Prozent vergrößern und bis zu 200 Gigatonnen atmosphärischen Kohlenstoffs einfangen“, erklärt Thomas Crowther. Der britische Wissenschaftler berät das World Economic Forum und die Trillion Trees Cam­paign der Vereinten Nationen. Zudem forscht er auch in seinem Labor an der ETH Zürich an Lösungen für die ökologischen Probleme unserer Zeit.

Foto eines brennenden Waldes
Foto einer Rauchsäule vor blauem Himmel

LÖSUNG: Abholzung stoppen und Aufforstung

Zusammen mit seinem Team konnte Crowther erstmals das Potenzial der Aufforstung in Zahlen fassen – und war überwältigt. Fast eine Milliarde Hektar Land steht demnach zur Verfügung. Ein Drittel der durch den Menschen verursachten Emissionen könnte so ausge­glichen werden. Damit das Pflanzen neuer Bäume Erfolg hat, müssen die Bäume jedoch individuell auf die Böden und das Ökosystem vor Ort abgestimmt werden, erklärt Crowther. Andernfalls könnten sie mehr schaden als nutzen, da willkürlich gewählte Pflanzen das Ökosystem aus der Bahn werfen. Um Ökosysteme ganzheitlich aufbauen zu können, übernahm der Wissenschaftler Daten und Bodenproben aus verschiedenen Regionen der Erde in sein System. Mit diesen Daten konnte er Vorhersagen für andere Regionen treffen und festlegen, welche Pflanzenarten vor Ort fruchten.

Genauso wichtig ist die Bewahrung alter Forste, weil alte Baumbestände wesentlich mehr CO2 schlucken können als neue Setzlinge. Der Clou von Crowthers Strategie: Eine Trillion Bäume wäre mit 300 Milliarden US-Dollar eine vergleichsweise günstige Lösung im Kampf gegen den Klimawandel. Allerdings ist sie kein Wundermittel und funktioniert nur, wenn zugleich auch der CO2-Ausstoß sinkt.

Nahaufnahme einer Mücke

Keine Mücke in Sicht

PROBLEM: Malaria

Seit über 200 Millionen Jahren summen Moskitos auf der Welt umher. Ihre Stiche sind nicht nur lästig, mit jedem Piks übertragen die Mücken viele der lebensbedrohlichsten Krankheiten der Welt. Allen voran: die Anopheles-Mücke, die Malaria überträgt. Parasiten nisten sich in weiblichen Mücken ein und bahnen sich durch deren Stich den Weg in den menschlichen Blutkreislauf. Dort angekommen, vermehren sie sich schlagartig und schnüren Organen den lebenswichtigen Sauerstoff ab.

Allein 2018 infizierten Stechmücken weltweit mehr als 228 Millionen Menschen mit Malaria, über 400.000 erlagen der Krankheit. Kinder unter fünf Jahren sind besonders gefährdet. Seit Jahren kämpfen Initiativen mit Medikamenten, Insektiziden, behandelten Bettnetzen und dem Versprühen von Insektiziden im Innenraum gegen Erreger und Wirt an. Doch wirksame Insektizide wie Dichlordiphenyltrichlor­ethan (DDT) sind aufgrund ihrer Nebenwirkungen umstritten. Außerdem entwickeln die Mücken und Parasiten Resistenzen gegen die Mittel, was auch die Entwicklung eines Impfstoffs erschwert.

Andrea Crisanti könnte nun einen anderen Weg im Kampf gegen Malaria gefunden haben. Mit seinem Team am Imperial College London will er die Plage mithilfe der Genschere CRISPR/Cas9 besiegen. Crisanti will Malaria ausrotten, oder genauer gesagt: ihren Wirt. Die Genschere ermöglicht es ihm, Gensequenzen auszutauschen und damit das Erbgut von Menschen, Tieren und Pflanzen zu verändern. Das nutzt Crisanti, um die DNA der Malariamücken zu manipulieren. Seine Idee: Wenn sich das X-Chromosom während der Produktion der Spermien zerstören ließe, entstünden nur noch männliche Mücken. Über kurz oder lang bräche die Population der Mücken ein. Außerdem stechen männliche Mücken nicht.

Eine Glasscheibe unter einem Mikroskop in einem Labor.
Mehrere Reagenzgläser in einem Ständer. Mit einer Pipette wird Flüssigkeit in die Gläser gegeben.

LÖSUNG: Gene Drive

Vor Kurzem ist Crisanti der Durchbruch gelungen. Im Labor konnte er das Erbgut von 150 männlichen Mücken wie gewünscht manipulieren. Mithilfe eines sogenannten Gene Drive wird das neue Gen dominant und überschreibt das alte bei jeder Fortpflanzung. In freier Wildbahn würde sich das dominante Gen schnell in der gesamten Population verbreiten. Weibliche Malariamücken könnten so dramatisch verringert oder sogar ausgelöscht werden.

Die Genmanipulation von Tieren und Menschen ist allerdings stark umstritten. Einmal manipuliert, lassen sich die Eingriffe nicht mehr rückgängig machen. Die Furcht vor unkontrollierbaren und kaum vorhersehbaren Spätfolgen ist groß. Im schlimmsten Fall kann die Manipulation oder Ausrottung einzelner Tierarten ganze Ökosysteme aus dem Gleichgewicht bringen. Im Falle der Malariamücke würde zum Beispiel die Nahrungsquelle von vielen Tierarten wie Vögeln, Fröschen und Fledermäusen verschwinden, was eine Kettenreaktion in Gang setzen könnte. Crisanti untersucht solche Auswirkungen derzeit im Labor, bevor er seine Forschung in der Natur testen will. Die positiven Folgen jedenfalls stehen schon heute fest: Malaria könnte dank der Genschere CRISPR/Cas9 bald der Vergangenheit angehören.

Bild von Wasser, welches in großen Tropfen durch die Luft wirbelt.

Die Revolution der Toilette

PROBLEM: Verdreckte Sanitäranlagen

Jeder Mensch muss mal. Seit der Brite Alexander Cumming 1775 das Patent für das erste Water Closet (WC) mit Geruchsverschluss anmeldete, können Menschen im Westen ihr Geschäft sauber verrichten. Bis heute sitzen wir auf der Keramikschüssel mit doppelt gebogenem Abflussrohr. Doch für mehr als die Hälfte aller Menschen weltweit sieht die Realität anders aus. Sie hocken sich über verdreckte Latrinen, in Büsche oder erleichtern sich in Flüssen. Und das hat Folgen.

In vielen Städten des globalen Südens gelangen mehr als 50 Prozent der menschlichen Abfälle ungefiltert in die Natur und verdrecken die Lebensgrundlage von Mensch und Tier. Rund zehn Prozent der Weltbevölkerung nimmt so laut der Bill & Melinda Gates Foundation Lebensmittel zu sich, die mit Abwasser gewässert wurden. Außerdem trinken die Menschen das verdreckte Wasser und waschen und baden damit: der perfekte Nährboden für Krankheiten wie Cholera, Hepatitis, Polio und Durchfallerkrankungen. Die WHO schätzt, dass jährlich mehr als eine halbe Million Kinder unter fünf Jahren an Durchfallerkrankungen stirbt. Mit sauberen sanitären Einrichtungen ließen sich nicht nur die Lebensbedingungen vor Ort verbessern, sondern vor allem Menschenleben retten.

Ein kleines Mädchen schließt die Tür einer Toilettenanlage. Das balube Gebäude steht auf einem braunen Boden.
An einem kleine Bach auf einer grünen Wiese liegt viel Müll. Im Hintergrund sind an einem Fluss Menschen zu sehen.

LÖSUNG: Neue Toilettenkonzepte

Doch Cummings WC stellt hohe Ansprüche an die Infrastruktur. Ohne ein komplexes Abwassersystem und eine Wasserversorgung versagt es den Dienst. Kläranlagen benötigen außerdem Strom. Mit der Reinvented Toilet Challenge animiert die Bill & Melinda Gates Foundation deswegen seit 2011 Ingenieure und Wissenschaftler, die Toilette sowie Methoden zur Abfallentsorgung neu zu erfinden. Das Ziel: die Welt bis 2030 mit sicheren sanitären Einrichtungen zu versorgen, die ohne jegliche Infrastruktur funktionieren. Die revolutionierte Toilette soll Krankheitserreger aus menschlichen Abfällen entfernen können, dabei Energie, sauberes Wasser und Nährstoffe zurückgewinnen – und bei all dem völlig autark funktionieren. Damit die neuen Toiletten das Abwasser überall gleich gut aufbereiten, half TÜV SÜD bei der Eta­blierung eines neuen technischen Standards: der ISO-Norm 30500.

Eine Konstruktion, die die neue Norm erfüllen soll, entsteht derzeit im Center for Water, Sanitation, Hygiene and Infectious Disease (WaSH-AID) an der US-amerikanischen Duke University. „Wir haben ein System entwickelt, das Abwasser so aufbereitet, dass es für die Spülung der Toilette wiederverwendet werden kann“, erklärt Brian Hawkins, Research Scientist am Center for WaSH-AID. Das System trennt zuerst flüssige und feste Stoffe voneinander. Anschließend wird die Flüssigkeit durch einen großen Aktivkohle­filter gedrückt. Eine elektrochemische Zelle bricht die molekularen Bindungen in den verbleibenden Salzen der Flüssigkeit auf. Dadurch entsteht ein chlorhaltiges Oxidationsmittel, das Krankheitserreger im Wasser schließlich abtötet. Das saubere Wasser fließt anschließend wieder durch die Spülung.

2018 testete Hawkins seinen Prototypen in der Praxis. Zehn Monate lang wurde das System in Coimbatore, Indien, benutzt. Insgesamt wandelte es 7.869 Liter Abwasser um. Während es in Indien gut abschnitt, gab es beim Praxistest in Südafrika Probleme: Toilettenpapier verstopfte das System. Hawkins nimmt sich dieses Problems nun an und schraubt an einer neuen Generation, die noch effektiver und kostengünstiger werden soll.

Ein Schuppentier steht auf zwei Beinen, die Vorderpfoten sind in der Luft.

Gefrorene Vielfalt

PROBLEM: Artensterben

Lange Krallen, schwarze Knopfaugen und in Gefahrensituationen kugelrund: Das Palawan-Schuppentier kann sich vor natürlichen Feinden normalerweise gut schützen. Trotzdem steht es auf der von der Internationalen Naturschutzunion IUCN angefertigten Roten Liste und ist vom Aussterben bedroht. Laut WWF zählen Schuppentiere zu den am häufigsten gewilderten Tieren der Welt. Ihr Fleisch gilt in Asien als Delikatesse, ihre Schuppen wurden in der chinesischen Medizin bislang als Wundermittel gehandelt. Nun hat China die bedrohte Tierart von der Liste der traditionellen Medizin gestrichen. Den Schwarzmarkt werde das aber wahrscheinlich nicht austrocknen, sagte die Gründerin der Stiftung für seltene und bedrohte Tiere, Maria Diekmann, nach der Entscheidung.

Einige sind durch Wilderei bedroht, andere durch die Abholzung ihres Lebensraums, manche durch den Klimawandel. Doch alle haben eines gemein: Der Mensch trägt zu ihrem Aussterben bei. Wissenschaftler warnen bereits vor dem größten Artensterben seit Ende der Dinosaurierzeit vor 66 Millionen Jahren.

Forscher am San Diego Zoo Global wollen das verhindern. In der ältesten und größten Genbank der Welt verwahren Marlys Houck und ein Team von Wissenschaftlern am sogenannten Frozen Zoo mehr als 10.000 lebende Zellkulturen, Eizellen, Spermien und Embryonen. Die Forscher können die Spermien unter anderem dafür verwenden, Tiere künstlich zu befruchten, indem sie ihnen etwa befruchtete Eizellen einsetzen. Das soll helfen, die weltweiten Bestände zu sichern oder sogar zu stärken – nicht nur in Zoos, sondern auch in Nationalparks und Naturschutzgebieten. Dafür arbeitet das Team im San Diego Zoo Global mit Initiativen weltweit zusammen.

Mit einer Zange wird eine einzelne eingefrorene Probe in die Kamera gehalten.

LÖSUNG: Genbanken

In der Vergangenheit haben Forscher des San Diego Zoo Global Materialien aus dem Frozen Zoo für die Produktion vieler Arten – von Vögeln bis hin zu Pandas – verwendet. Sogar Eizellen des Südlichen Breitmaulnashorns konnten erfolgreich mit Sperma, das bereits einige Zeit auf Eis lag, befruchtet werden. Noch lebende Weibchen können so Nachwuchs bekommen. Damit Zellproben so lange intakt und haltbar bleiben, müssen Houck und ihr Team sie mit speziellen Frostschutzmitteln behandeln und bei minus 196 Grad in flüssigem Stickstoff einfrieren. „Dabei kommen alle biochemischen Prozesse zum Erliegen und die Zellstrukturen bleiben erhalten“, erklärt Houck.

Für den Erhalt von Tierarten ist die Genbank eine unschätzbar wertvolle Ressource, muss allerdings durch weitere Maßnahmen flankiert werden. Erst wenn sich Wilderei nicht mehr lohnt, lassen Menschen zum Beispiel davon ab, bedrohte Tierarten zu jagen. Damit Forscher in anderen Ländern das Überleben von heimischen und bedrohten Tierarten sicherstellen können, versuchen Houck und ihre Kollegen, ihr Wissen weiterzutragen. So sollen überall auf der Welt Genbanken – genauer lebensfähige Zellbanken – entstehen. Die Zellproben liefern außerdem wichtige Einblicke in die Genetik und Lebensweise der Tiere. So können die Forscher bereits heute wichtige Schlüsse für den Erhalt der Tiere und die Wildtiermedizin ziehen. Und handeln, bevor es zu spät ist.

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