Das Zukunftsmagazin von TÜV SÜD
Digitale Draufsicht auf das historische Balkenwerk der Kathedrale Notre-Dame von Paris nach dem Brand.

LOCH IM HERZ

TEXT BIRGIT HOLZER

—— Der Brand von Notre-Dame im Jahr 2019 hat das Herz Frankreichs in Flammen aufgehen lassen. Die Menschen mit der vielleicht wichtigsten Rolle beim Wiederaufbau sitzen ganz in der Nähe – und wollen die Mammutaufgabe mithilfe moderner Technologie meistern.

Ein Mausklick, und der virtuelle Flug durch den „Wald“ beginnt. Die Eichenbäume in diesem Wald ragen nicht mehr in den Himmel, es sind schon robuste Balken. Zartes Sonnenlicht scheint durch sie hindurch. Durch den 3-D-Film bekommt der Zuschauer beim Blick auf den Bildschirm das Gefühl, er schwebe selbst durch die Balken, durch Jahrhunderte von Geschichte, durch das Herz eines Landes. Wald, so wurde das historische Balkenwerk der Kathedrale Notre-Dame von Paris genannt, bevor es in der Nacht vom 15. auf den 16. April 2019 verbrannt ist. Seitdem gibt es ihn nicht mehr, den Wald – nur noch diese Bilder und eine Ahnung, wie besonders dieser Ort einst war.

Der Brand von Notre-Dame, deren Bau auf das zwölfte Jahrhundert zurückgeht, hat die Menschen weit über Paris hinaus erschüttert. Millionen saßen entsetzt vor ihren Fernseh- und Computerbildschirmen und beobachteten das Feuerinferno und den Rauch, der über einem der bedeutendsten Wahrzeichen von Paris aufstieg. In der französischen Metropole versammelten sich Tausende im weiteren Umkreis des Kirchenbaus, der sich wahrhaftig im Herzen der Stadt befindet. Jede Distanz von Paris zu anderen Orten der Welt wird vom Platz vor Notre-Dame aus gemessen. An jenem Abend begannen viele Menschen, spontan zu singen. Manche knieten auf dem Boden, die Gesichter der brennenden Kathedrale zugewandt.

Erst in den frühen Morgenstunden gelang es der Feuerwehr, den Brand vollständig zu löschen. Dann trat Präsident Emmanuel Macron vor die Fernsehkameras, nahm eine Rede auf, die die Fernsehsender ins ganze Land ausstrahlten. „Wir sind ein Volk der Erbauer“, sagte Macron darin in schwerwiegendem Ton. „Ja, wir werden diese Kathedrale noch schöner wiederaufbauen, und ich will, dass es in fünf Jahren fertig ist. Wir können das.“ Es war ein gigantisches Versprechen, das Macron an diesem Tag gab. Das Herz einer ganzen Nation zu reparieren, und das in nur fünf Jahren? Und wenn ja: Wie soll das gehen?

Noch bevor Macron überhaupt gesprochen hatte, machte sich ein Mann bereits daran, einen immens wichtigen Teil dieser Aufgabe zu stemmen: Gaël Hamon. Noch in der Nacht begannen er und sein Team die Archive nach bereits vorhandenen Fotos und Daten aus früher durchgeführten Kartierungen von Notre-Dame zu durchsuchen, kurze Zeit später kam der Anruf des Präfekten: „Wir brauchen euch“, sagte er – „und zwar schnell.“

3D-Seitenansicht der Dachkonstruktion der Notre-Dame
Seitenansicht eines Ausschnittes der Dachkonstruktion mit Kunst am Bau.
Foto einer Kamera, die im Inneren der Notre-Dame Daten und Bilder sammelt.
DIGITALES MONUMENT Aus Millionen Datenpunkten haben die Experten einen digitalen Zwilling gebaut. Er ist die Basis für den Wiederaufbau der Kathedrale.
Portrait von Gaël Hamon, der die Arme verschränkt hat und in die Ferne lächelt.

„Noch nie war das öffentliche Interesse an unserer Arbeit so groß wie seit dem Brand von Notre-Dame.“

GAËL HAMON

VOM 13. INS 18. JAHRHUNDERT

Kurz darauf befand sich Hamon mit seinem Team in der von den Flammen verwüsteten Kathedrale. Mit der Technik der Lasergrammetrie (Laserscanner) und der Fotogrammetrie machten sie Hunderte Farbscans mit rund 50 Milliarden digitalen Punkten von allen Oberflächen. Die unzugänglichen Bereiche kartierten sie mit einer Drohne. Im Anschluss wurden die Fotos, Punktwolken – also eine 3-D-Masse mit Datenpunkten – und Scans verarbeitet und übereinandergelegt. Mit ihnen und auf Basis der aktuellen technischen Daten sowie jener von vor dem Brand, die sich im Archiv gefunden hatten, errechneten sie ein BIM-Modell (BIM für Building Information Modeling). Bei diesem digitalen Prozess werden sämtliche relevanten Informationen in eine synchronisierte Datenbasis eingespeist, kombiniert und erfasst. So entstand ein dreidimensionales Gebäudemodell von Notre-Dame, ein digitaler Zwilling mit sämtlichen Maßen und Informationen über Oberflächen, Materialien und ihren aktuellen Zustand.

Die Ingenieure machten das Modell schnell den anderen Beteiligten zugänglich, die es seither als Grundlage für den Wiederaufbau nutzen wollen. Noch dazu ist das BIM-Modell dynamisch, wird permanent aktualisiert und bei jeder strukturellen Änderung auf der Baustelle angepasst. Seither entwickelt sich das Modell im Gleichschritt mit der Rekonstruktion des französischen Herzens, das in der Brandnacht zur internationalen Headline wurde.  

Nun, fast drei Jahre später, sitzt der 51-jährige Hamon in einem modernen Vorführraum seines Unternehmens Art Graphique & Patrimoine (AGP) im Vorort Saint-Denis nördlich von Paris und klickt durch das 3-D-Modell des Dachstuhls, den er nur Wald nennt. „Gerade waren wir noch im 13. Jahrhundert, hier kommen wir jetzt in das 18. Das lässt sich ganz eindeutig erkennen: Der Schnitt der Stämme ist anders, man sieht Stahlschrauben und es handelt sich nicht mehr um dieselben Formen“, kommentiert Gaël Hamon die Bilder. In seinem Vorführzimmer hängt ein Foto in Schwarz-Weiß, das wie eine Röntgenaufnahme aussieht, vom Vierungsturm und Balkenwerk von Notre-Dame. Den Turm hat der Architekt Eugène Viollet-le-Duc im 19. Jahrhundert hinzugefügt. Beim Brand stürzte der Turm, der sich auf dem Mittelschiff befand, in die Tiefe und durchschlug dabei die Vierung. Zerstört hat das Feuer außerdem das Bleidach, die Turmuhr und Teile des Kreuzrippengewölbes. Schäden gab es unter anderem am Mauerwerk der Gewölbe, an der Dachgiebelwand zwischen den Westtürmen, den Fassaden des Querschiffs, der Chororgel, dem Chorgestühl und dem Rosettenfenster aus dem 19. Jahrhundert.

Collage aus einer Fasadenansicht und vielen kleinen Bildern in einem digitalen Raum.
Vogelperspektive auf die Baustelle von Notre-Dame
Foto auf dem ein Ausschnitt der detailreich verzierten Fasade zu sehen ist.
Vogelperspektive auf zwei Türme der Notre-Dame und des umliegenden Parks.
Eine digitale Baustelle parallel zur physischen – Die Fotos, die für den Wiederaufbau genutzt werden, sollen später allen Menschen zur Verfügung stehen. So entstehen zwei Kathedralen: eine analoge, eine digitale. Starfotograf Yann Arthus-Bertrand wurde für seine Luftaufnahmen bekannt. Für den Wiederaufbau stellte er seine Fotos von Notre-Dame bereit.

EIN RADIOLOGE FÜR BAUWERKE

Für Gaël Hamon sind solche Aufzählungen ein Tiefschlag. Was er empfunden hat, als er die Livebilder von den Flammen sah, die über dem gotischen Gotteshaus loderten? „Ich war wütend, dass das passiert: 800 Jahre lang ist es gelungen, den Wald intakt zu halten. Und meine Generation hat es zu verantworten, dass er verbrannte.“ Noch immer laufen Ermittlungen, um die Ursache für die Katastrophe herauszufinden. Klar ist, dass es sich um eine Verkettung unglücklicher Umstände handelte, aber wohl auch um Nachlässigkeit bei den Sicherheitsvorkehrungen. „Notre-Dame musste erst in Flammen aufgehen, damit man sich endlich der Zerbrechlichkeit unseres Kulturguts bewusst wird“, ärgert sich Hamon.

Er könnte stundenlang über das Thema Restaurierung und Denkmalschutz sprechen, es ist seine größte Leidenschaft. Vor 27 Jahren gründete der gelernte Steinmetz AGP als Spezialist im Bereich der Digitalisierung zur Dokumentation von kulturellem Erbe – Hightech für Schützenswertes gewissermaßen. Das Unternehmen beschäftigt heute 33 Personen – Architekten, Archäologen, Steinmetze, Landvermesser, Kunsthistoriker, Computergrafiker und Entwickler. AGP arbeitet beispielsweise mit Laserscannern (Lasergrammetrie), die Oberflächen mit einem Laserstrahl vermessen und Bilder erzeugen, und dem Verfahren der Fotogrammmetrie, bei der aus mehreren Fotos eines Objekts mit unterschiedlichen Aufnahmewinkeln und Abständen und mithilfe einer speziellen Software zunächst eine Punktwolke und daraus ein digitaler Zwilling erzeugt wird. Besonders stolz ist man auf das vom Staat verliehene Label „Entreprise du Patrimoine Vivant", deutsch: „Unternehmen des lebendingen Kulturlebens", das AGP als einizges Unternehmen im Bereich der modernen Technologie besitzt. „Unser Metier ist es, einen Beitrag zur Erhaltung und Restaurierung historischer Denkmäler und Kunstwerke zu leisten, ob es sich um ein prestigeträchtiges Bauwerk wie Notre-Dame handelt oder um eine kleine Landkapelle“, erklärt Hamon.

Hamon selbst nennt sich gern den Radiologen der Bauwerke, weil er ebenfalls mit bildgebenden Verfahren wieder etwas zusammenflickt – in seinem Fall Gebäude. Simpel ist das nicht. Eine der Schwierigkeiten besteht nun darin, dass sich historische Monumente im Laufe der Zeit oft verändert und verformt haben, manche Teile unregelmäßig und nicht mehr homogen, ja einzigartige Stücke sind – moderne Software oder Technologien aber für heutige Gebäude konzipiert wurden und bestimmte Verformungen gar nicht erfassen können.

UNTERNEHMEN FÖRDERN WIEDERAUFBAU

Auch in Notre-Dame hat sich vieles über die Jahrhunderte verändert, immer wieder haben Bauherren das Herz der Nation umgeformt, was damals völlig normal war. Bis zum 19. Jahrhundert wurden Kathedralen ständig umgestaltet – davon zeugt unter anderem der Spitzturm von Viollet-le-Duc, dessen Sturz in die Tiefe Beobachter des Brandes bestürzt aufschreien ließ. Um auch solche Spezialfälle abzubilden, arbeitet AGP als Beta-Tester für Softwarehersteller wie Autodesk, dessen Software man für BIM oder technische Zeichnungen benutzt.

Geflossen ist all die Arbeit von Bauwerk-Radiologe Hamon in die nun digitale Baustelle von Notre-Dame, die das Nationale Zentrum für wissenschaftliche Forschung CNRS (Centre national de la recherche scientifique) drei Monate nach dem Brand eingerichtet hat. Dort stehen seine Daten neben denen weiterer Unternehmen. Das Start-up Iconem beispielsweise rief an der Seite von Microsoft die Aktion „Open Notre-Dame“ ins Leben. Sie wollte Bilder des Kirchenbaus als einer der meistfotografierten Sehenswürdigkeiten der Welt sammeln. Der Starfotograf Yann Arthus-Bertrand stellte von ihm gemachte Luftaufnahmen zur Verfügung. Dasselbe galt für das französische Unternehmen Ubisoft, das etliche Aufnahmen für die virtuelle Kulisse des Videospiels „Assassin’s Creed“ gemacht hatte. Als besonders wichtige Datenquelle erwies sich darüber hinaus die Arbeit des US-Wissenschaftlers Andrew Tallon, der 2013 mit Laserscannern Milliarden Datenpunkte an Fassade und Innenraum der Kathedrale erfasst hatte.

Portrait von Livio De Luca in der Seitenansicht. Er blickt durch eine Brille in die Kamera.

„Es haben sich noch nie so viele Forscher aus ganz verschiedenen Feldern für ein gemeinsames Projekt mobilisiert.“

Livio De Luca, CNRS

NOTRE-DAME-PROJEKT ALS PIONIERARBEIT

Vereint sind sie nun unter den Fittichen von Livio De Luca. Er ist Leiter der Onlineplattform, auf die 175 Forscher der verschiedensten Disziplinen Zugriff haben. Sie arbeiten für das CNRS, das Kulturministerium oder auch an Universitäten nicht nur in Frankreich. Archäologen, Chemiker, Ingenieure, Architekten, sie alle können damit in Echtzeit arbeiten. Es ist ein weltweit einzigartiges digitales Ökosystem entstanden.

Mithilfe dieser Plattform verlaufen die physische und die digitale Baustelle nun parallel zueinander. Ein BIM-Modell erlaubt dabei das ständige Teilen aller Informationen, die Modellierung verschiedener Optionen und die Validierung von Entscheidungen. Es ist sogar möglich, den genauen Platz für einen Kran oder ein Gerüst festzulegen, ohne dafür vor Ort an der Baustelle sein zu müssen. Das spart viel Zeit, wenn es bald in die nächste Phase des Wiederaufbaus gehen sollte.

Selbst wenn das Herz wieder rekonstruiert ist, soll die Arbeit der Ingenieure erhalten bleiben. Ab 2024 will man die Datenbasis für die ganze Welt öffnen. Jedes Unternehmen, das einen Film oder ein Videospiel mit den Informationen machen möchte, darf sich dann an dem Material bedienen. So hat der Brand am Ende vielleicht auch etwas Gutes: Notre-Dame gibt es bald zweimal, einmal analog – und dank kluger Köpfe wie Hamon einmal digital.

Foto auf dem ein 3D-Scanner zu sehen ist und Keilsteine, die damit digitalisiert werden.
Ausschnitt 3-D-Rekonstruktion des Deckengewölbes.
Stück für Stück Maßgefertigte 3-D-Scanner kommen für die Digitalisierung von Keilsteinen der Doppelbogen im Kirchenschiff zum Einsatz. Aus Lasergrammetrie gewonnene Daten und Fotos erlauben die 3-D- Wiederherstellung der Kirche.

FOTOS:

Frédérique Plas (Porträt) Chantier Scientifique Notre-Dame de Paris (3D-Scanner/ 3D-Modelle); Iconem (Collage); Yann Arthus-Bertrand (Luftaufnahmen); Art Graphique & Patrimoine

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