Das Zukunftsmagazin von TÜV SÜD

FRAGILE  VIELFALT

TEXT ANNA GAUTO

—— Die Globalisierung schafft enorme Vielfalt im Warensortiment und verknüpft Produzenten auf der ganzen Welt. Das ist effizient und günstig, aber gleichzeitig fragil. Was passiert, wenn der globale Warenstrom abreißt – und wie lässt sich das verhindern?

Manchmal fehlen nur vier Millimeter. So groß ist in etwa der Durchmesser eines „Nippels“, jener unscheinbaren Schraube, die Speiche und Felgenring eines Laufrads zusammenhält. „Es ist wirklich klein“, sagt Konrad Irlbacher, Geschäftsführer des Fahrradherstellers Corratec, über das silberne Teilchen, „aber wehe, es fehlt.“

Wenn die winzigen Schrauben zwischen ihrer Produktionsstätte in China und dem Firmensitz von Corratec im oberbayerischen Raubling hängen bleiben, kann Irlbacher fast fertig montierte Fahrräder nicht verkaufen. Das Gleiche gilt für Alurahmen aus Taiwan, für Schaltungen aus Japan oder E-Bike-Motoren aus Ungarn, die nicht fertig werden, weil in Ungarn ein Kabel aus Asien fehlt. Für seine Fahrräder bezieht Corratec Bauteile aus der ganzen Welt – und nicht immer ist das von Vorteil.

Inmitten einer Rekordnachfrage, in der sich Lockdown-Geplagte um Mountainbikes, Elektrofahrräder und Gravelbikes rissen, pausierte bei Corratec zeitweise die Produktion. „Dass im März auch noch das Containerschiff Ever Given im Suezkanal stecken blieb, war wirklich das i-Tüpfelchen“, sagt Irlbacher. 20.000 Container fasst die Ever Given, in 10 stapelten sich Fahrradkomponenten für Corratec, die wegen Rechtsstreitigkeiten in Ägypten erst im Juli mit dem Frachter Kurs auf Europa nahmen. „Wegen der fehlenden Teile konnten wir etwa 2.000 Räder nicht fertigen“, klagt Irlbacher.

Was der Corratec-Geschäftsführer erlebt, passiert aktuell in vielen Betrieben auf der ganzen Welt. Allein in Deutschland leidet laut Ifo-Institut fast jedes zweite Unternehmen unter Lieferengpässen. Trotz voller Auftragsbücher gehen Mitarbeiter in Kurzarbeit, in manchen Fabriken stehen Roboter und Laufbänder still. Bei Autoherstellern stauen sich halbfertige Fahrzeuge, weil elektronische Chips nicht ankommen. Bauträger warnen wegen fehlender Kunststoffe und Hölzer sowie hoher Preise für Stahl vor Engpässen und Baustopps im Sommer. Auch Privatleute müssen sich gedulden – und auf Fahrräder oder Möbelstücke monatelang warten.

Die Globalisierung mit ihrer regionalen Arbeitsteilung und hoch spezialisierten Produktion hat der Welt ungeahnten Wohlstand beschert und eine schier unendliche Produktvielfalt hervorgebracht. Dank eng verwobener Lieferketten können wir zwischen Dutzenden Smartphone-Modellen, Jeansmarken oder Fahrradausstattungen wählen. Laut einer Studie, die 2006 im Quarterly Journal of Economics veröffentlicht wurde, haben sich allein in den USA die Produktvarianten von rund 71.400 im Jahr 1972 auf 259.000 im Jahr 2001 mehr als verdreifacht.

„Dass auch noch die Ever Given im Suezkanal stecken blieb, war wirklich das i-Tüpfelchen.“

Konrad Irlbacher, Geschäftsführer von Corratec

RISIKO DER VIELFALT

Doch die engen Handelsbeziehungen, auf denen die Produktvielfalt beruht, bergen auch Risiken, wie die aktuellen Mangelerscheinungen zeigen. Eine ganze Kaskade unglücklicher Ereignisse hat den globalen Warenaustausch ins Stocken gebracht. Neben der Pandemie und der Suez-Havarie verschärfte ein Wintersturm in Texas die Lage, weil er die dortige Halbleiterproduktion durch Stromausfälle lahmlegte. Hinzu kam ein Brand in einer japanischen Chipfabrik. Vor allem aber ist es das Coronavirus, das die Schwachstellen einer international eng verflochtenen Wirtschaft schonungslos offenlegt.

Und so stellt sich die Frage, wie sicher die Versorgung mit Rohstoffen und Nahrungsmitteln, mit Konsumgütern und Dienstleistungen im Fall einer globalen Katastrophe wie Covid-19 eigentlich ist. Wie sehr eine Pandemie ein globales Wirtschaftssystem aus den Fugen werfen kann – und wie sich Engpässe künftig vermeiden lassen.

In den Corratec-Hallen, durch die ein Mitarbeiter per Smartphonekamera führt, schrauben und montieren vereinzelt ein paar Kollegen in den Produktionsstraßen, aber viele der Gehänge, an denen sonst die Räder rotieren, sind frei. „Normalerweise haben wir dreimal so viel Betrieb“, sagt Irlbacher. Wegen des Staus auf den Weltmeeren können die Mitarbeiter des 58-Jährigen seit Monaten nur Reste zusammenschrauben. Sie müssen Pläne umwerfen und die verbleibenden Räder „fair“ unter den Händlern aufteilen, damit diese nicht „ins Wackeln“ kommen, wie Irlbacher erzählt. „Wir suchen für unsere Kunden trotz allem nach guten Lösungen, doch die erhöhten Seefrachtkosten müssen wir anteilig in Rechnung stellen.“ Der Handel mit Containerplätzen, so Irlbacher, gleiche derzeit dem Gezocke an der Börse.

Illustrierte Weltkarte, auf der Meeres-Handelsrouten eingezeichnet sind.
MARITIME SCHLAGADERN Der Warenaustausch übers Meer folgt wenigen großen Routen, die stellenweise durch Nadelöhre wie den Suezkanal verengt werden. Unsere Karte zeigt die wichtigsten Routen sowie bedeutende Häfen.

André Schwarz, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen (BGA), vertritt die Interessen der Unternehmen des Groß- und Außenhandels und kennt solche Probleme. Beim BGA beklagen sich regelmäßig Unternehmen über die aktuell hohen Frachtpreise. „Die Preisentwicklung ist extrem ärgerlich, das bringt die gesamte Logistik und Kalkulation durcheinander“, sagt Schwarz. Es verfestige sich der Eindruck, so Schwarz, dass Reedereien die aktuelle Schieflage ausnutzten.

In der Tat sind nach Berechnungen des Ifo-Instituts die Frachtkosten zwischen China und Mitteleuropa von November 2020 bis Mitte April 2021 im Schnitt um das Drei- bis Vierfache gestiegen. Die Preise mancher Standard-Seefrachtraten, die sonst zwischen 1.500 und 2.000 Euro lagen, haben sich laut dem Schifffahrtsexperten Alexander Nowroth von der Lebenswerk Consulting Group gar auf bis zu 10.000 Euro pro 40-Fuß-Container erhöht.

Prof. Dr. Lisandra Flach, die das Ifo-Zentrum für Außenwirtschaft leitet, bezeichnet den Containerschiffsverkehr daher auch als „Achillesferse des internationalen Handels“. Weil sich die größten Reedereien zu drei globalen Allianzen zusammengeschlossen hätten, fehle derzeit die Flexibilität auf den Seestraßen. Denn um Kosten zu sparen, setzten die Allianzen immer öfter auf größere, rentablere Schiffe und konzentrierten sich auf einige Hauptrouten mit großen Häfen. Das Ergebnis: Immer weniger Reedereien steuerten immer weniger Häfen an, die Routen zu kleineren Häfen gingen zurück. Der Transport mit gigantischen Containerschiffen, so Flach, sei im Normalfall also günstiger – aber eben auch langsamer und weniger flexibel. Inmitten einer Pandemie erschüttert das den Welthandel im Mark.

Nahaufnahme eines Computerchips – gehalten von Daumen und Zeigefinger in weißen Handschuhen
DIGITALE MANGELWARE Computerchips stecken längst nicht mehr nur in Smartphones und Laptops, sondern sind auch für Autos unersetzlich geworden.

ZU LANGSAME KOLOSSE

Als die ersten Coronawellen über den Erdball schwappten und Fabriken teilweise schließen mussten, nahmen Reedereien ihre Schiffe vorsorglich aus dem Verkehr. Anders als in früheren Krisen aber zog die Nachfrage nach vielen Gütern dieses Mal unerwartet stark und schnell wieder an. Westliche Industrieländer orderten plötzlich in großem Umfang Heimausstattung und Elektronik für Homeoffice und virtuellen Schulunterricht. Wer nicht in den Urlaub fahren konnte, begann in Haus und Garten zu werkeln, neue Räder zu bestellen oder Spielkonsolen mit jenen Computerchips zu kaufen, die den Autobauern anschließend fehlten. Die Reedereien, so erklärt es die Ökonomin, konnten diese „Ungleichzeitigkeit“ nur schwer vorhersehen. Als die Nachfrage nach Bildschirmen, Smart-TVs und Gartenmöbeln aus Asiens Werken explodierte, bekamen sie ihre Kolosse nicht schnell genug wieder auf See.

Eine Analyse der Vereinten Nationen zeigt, dass über 80 Prozent des Gesamtvolumens im internationalen Warenverkehr auf den Seehandel entfallen. Kommt es bei der Containerschifffahrt zu Störungen, beeinträchtigt das den globalen Güterverkehr – und verändert gesamte Handelsströme. „Angesichts der Preise, die Con-tainer derzeit in Asien erzielen, schicken Schifffahrtsunternehmen sogar leere Container auf Frachtern zurück nach Asien, ohne sie mit Exportgütern zu beladen“, so Ökonomin Lisandra Flach. Damit seien sie zwar schneller vor Ort, um die begehrten Konsumgüter einzuladen, zugleich stocke aber der Warenaustausch. Auf Routen, die ohnehin weniger befahren werden, erlahmt der Verkehr.

Damit verzweifelte Kunden wie Konrad Irlbacher wichtige Teile für ihre Produktion dennoch bekommen, machen die Routenmanager in den Speditionen und Reedereien derzeit Überstunden. Einer von ihnen ist Lars Mikael Jensen von Maersk. Für die größte Containerschiffsreederei der Welt leitet er das globale „Ozean-Netzwerk“. „Während der vergangenen acht Monate erlebten wir einen unglaublichen Sturm“, sagt der Däne, der aus seinem Büro in Kopenhagen zugeschaltet ist. Auf dem Aktenschrank hinter ihm steht ein blau-weißes Maersk-Fähnchen. Kritik, dass Reedereien diesen Sturm mitverursacht hätten und nun kräftig daran verdienten, weist der Mann mit der dunklen Hornbrille und dem weißen Haupthaar zurück. Die Preise richteten sich nun einmal nach Angebot und Nachfrage. Zudem zahlten Kunden mit festen Verträgen weiter die vereinbarten Preise, lediglich bei kurzfristigen Bestellungen lägen die Kosten aktuell höher.

Foto von gestapeltem Holz an einem Hafen vor Lagerhalle.
KNAPPES BAUMATERIAL Dürren, explodierende Nachfrage und Logistikprobleme machen Holz so knapp wie lange nicht mehr. Die Folgen: explodierende Preise und Baustopps.

„Zum Glück haben wir nicht jeden Tag eine Havarie am Suezkanal“, sagt Jensen. Jährlich passieren rund 20.000 Schiffe das Nadelöhr. Jensen, seit 40 Jahren bei der Reederei, war für den Zeitplan und die Routen der Schiffe verantwortlich, als die Ever Given auf Grund lief. 30 Maersk-Schiffe standen plötzlich still. „Die ersten 24 Stunden hofft man einfach, dass es schnell weitergeht“, erinnert sich der Schifffahrtsmanager. Als aus Stunden Tage wurden, entschied Maersk, einige Schiffe über Südafrika umzuleiten und andere später mit Vollgas durch den Kanal fahren zu lassen. Das Kalkül: die Schiffe schnell zurück in ihren „Loop“ bringen, jenen eng getakteten Kreislauf auf See. Denn Verspätungen sind teuer. Eine Woche Sperre im Suezkanal hat laut Berechnungen der Allianz-Versicherung bis zu zehn Milliarden Dollar Einbußen im Welthandel verursacht.

Portrait von Lisandra Flach, in schwarzem Jackett, die Brille trägt und in die Kamera lächelt.

„Der Schiffsverkehr ist die Achillesferse des internationalen Handels.“

Lisandra Flach, Ifo-Zentrum für Außenwirtschaft

Für Jensen bedeutete das, abzuwägen, zu improvisieren, manche Schiffe nicht wie geplant erst nach Korea zu schicken, sondern direkt nach Hongkong, um sie wieder in den „Return Loop“ nach Europa einzuklinken. Gleichzeitig suchten er und sein Team nach alternativen Transportwegen. Güter, die für Kunden „superdringend“ waren, wurden in Flugzeuge geladen. „Halbdringende Güter“, so Jensen, gelangten per Zug über die Neue Seidenstraße (vgl. ABOUT TRUST 03-19) oder per Lkw nach Europa. Was Kunden „nur“ als wichtig, aber nicht dringend einstuften, kam weiter per Schiff. „Irgendwann zählt für viele Kunden nur noch, dass geliefert wird, und nicht mehr der Preis“, sagt Logistiker Thorsten Koch von der Rhenus Gruppe. Auch Konrad Irlbacher ließ neue Fahrradmuster für die anstehende Eurobike-Messe lieber einfliegen.

Für Globalisierungsexperten wie Prof. Dr. Hartmut Egger von der Universität Bayreuth oder Ifo-Ökonomin Lisandra Flach zeigt das, wie flexibel Märkte selbst mit mehreren externen Schocks umgehen können. Die Güterversorgung sei nie ernsthaft gefährdet gewesen, vor allem nicht in Ländern wie Deutschland, die über „extrem diversifizierte“ und damit robuste Lieferketten verfügten, so Flach. Dass der Handel nicht komplett zusammengebrochen sei, liege dabei nicht an der Intervention von Regierungen, sondern „am Charme des Markts“, so Egger. Es lohnt sich eben für alle Beteiligten, Engpässe schnell zu beseitigen, nach Ersatzrouten oder alternativen Lieferanten zu fahnden.

Illustration einer steigenden Kurve, die die Wachstumsrate des Seehandels abbilden soll.
RASANTER ANSTIEG Wachstumsrate des Seehandels in Millionen Tonnen Ladung

NEUE LIEFERKETTEN

Betriebe, die wie Fahrradbauer Corratec auf pünktliche Lieferungen angewiesen sind, wollen ihre Abhängigkeit von Produzenten aus Asien künftig dennoch reduzieren und Lieferketten diversifizieren. Statt sich auf einzelne Zulieferer zu fokussieren, sollen mehrere Händler an unterschiedlichen Standorten für Stabilität sorgen.

Konrad Irlbacher sagt, man werde einige „neuralgische Produkte wie Reifen, Bremsen, Kettenritzel oder Gabeln“ in Zukunft verstärkt einlagern. Auch suche der Mittelständler verstärkt nach europäischen Alternativen. Gerade E-Bikes seien allerdings als Hightechgeräte auf Akkus, Computerchips und Motoren angewiesen. „Würde man die in großen Mengen bevorraten, wäre das schlicht teurer.“

Der Fahrradmanager hat ohnehin schon die nächste Baustelle im Blick. Obwohl sie in Raubling bis zum Sommer sehnsüchtig auf die Komponenten für die Frühlingssaison 2021 warten mussten, die nach drei langen Monaten auf der Ever Given ihren Zielort endlich erreichten, muss Corratec bereits neue Teile für 2024 bestellen. „Der Markt“, so Irlbacher, „wartet nun einmal nicht.“

FOTOS

Xpicture alliance/ASSOCIATED PRESS (Ever Given); Janek Stroisch (Porträt, Details Produktion Corratec), muehlhausmoers (Infografik); GettyImages/Tetra Images (Computerchip); iStock/georgeclerk (Holz in Hafen), ifo Institut (Porträt); GettyImages/Michael Wells (Schiff); GettyImages/Insung Jeon (Hafen)

WEITERE ARTIKEL