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DURCH DEN SIPHON UND AUS DEM SINN?

—— Egal, ob Coronaerkrankungen oder Drogenkonsum: Abwasser liefert erstaunlich viele Informationen und verrät so einiges über unsere Lebensweise. Wie Wissenschaftler in Kläranlagen nach Daten suchen.  

Foto von Wasser in Bewegung. Das Wasser ergießt sich von der linken oberen Ecke des Bildes in die untere rechte. Es handelt sich um einen kompakten Körper, der in unterschiedlichen Farben schimmert und fluoresziert. Den Hintergrund bildet ein Farbverlauf.

TEXT TANITA HECKING
FOTO PHILOTHEUS NISCH

Wenn João Matias auf die Daten der vergangenen zwei Jahre blickt, bestätigen sie seine Vorhersagen. Matias arbeitet beim European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction, kurz EMCDDA, und beobachtet von Lissabon aus, wie sich der Drogenkonsum in ganz Europa verändert.

Während der Pandemie hat sich einiges getan: Während weitaus weniger Menschen Ecstasy zu sich nahmen, konnte Matias bei Kokain und allen anderen Drogen, die vom EMCDDA, einer Agentur der Europäischen Union, überwacht werden, einen deutlichen Anstieg feststellen. Das erklärt der Analyst damit, dass Ecstasy als Partydroge während der Lockdowns weniger attraktiv war. Menschen griffen eher zu Kokain und MDMA, weil diese Drogen auch zuhause konsumiert werden – nicht nur in Clubs.

Im aktuellen Bericht über das Jahr 2021 zeigt sich wieder ein deutlicher Unterschied zwischen den Wochentagen. In Antwerpen etwa lag der Konsum am Wochenende bei 1.700 Milligramm pro 1.000 Personen und Tag, unter der Woche bei 1.423 Milligramm. Ähnliche Beobachtungen konnte Matias auch für den Konsum von MDMA machen und feststellen, dass die Droge in Städten in Belgien, Deutschland, den Niederlanden, Schweden und Norwegen nach wie vor besonders beliebt ist. Bei Amphetaminen, Methamphetamin und Cannabis hingegen blieben die Werte über die Woche stabil. Vor allem in Städten in Kroatien, Spanien, den Niederlanden und Slowenien seien diese Drogen für viele Menschen Teil des Alltags, sagt Matias.

Dass er diese Rückschlüsse ziehen kann, ist aufgrund von Abwasseranalysen möglich. „Alles, was wir essen, trinken, rauchen oder injizieren, gelangt in unser System, dort verstoffwechselt unser Körper es und scheidet es wieder aus“, erklärt er. Im Abwasser lassen sich diese Rückstände nachweisen und ermöglichen Rückschlüsse auf das Leben der Bevölkerung. Doch wie genau funktioniert eine Abwasseranalyse eigentlich? Und was für Potenziale liegen darin?

Schlüsse aus dem Abwasser ziehen

Die Abwasseranalyse ist ein junges Fachgebiet. In den 1990er-Jahren diente sie dazu, Umweltauswirkungen von häuslichem Abwasser zu untersuchen. Heute ist sie vielfältig einsetzbar: zur Überwachung des Drogenkonsums in Europa, aber auch, um den Gesundheitszustand der Bevölkerung und potenzielle Gefahren im Blick zu behalten.

Das Analyseverfahren unterscheidet sich je nachdem, wonach gesucht wird. Das EMCDDA, das seit elf Jahren die Drogenverbreitung in Europa überwacht, betrachtet für seinen jährlichen Report Stichproben aus europäischen Städten. 2021 waren es 75 Kommunen aus 23 europäischen Ländern, die die Proben freiwillig bereitstellten. 

Im Abwasser suchen Forscher zunächst nach Metaboliten. Die chemischen Verbindungen befinden sich innerhalb von Zellen und entstehen beim Stoffwechsel durch Enzyme. Anschließend verrät eine chemische Analyse, welche Drogen konsumiert wurden. Für jede Droge gibt es unterschiedliche Metabolite. Kokain wird anhand von Benzoylecgonin (BE) nachgewiesen, Cannabis anhand von THC-COOH (11-Nor-9-carboxy-delta9-Tetrahydrocannabinol). Mit diesen Informationen lässt sich die Menge der konsumierten Drogen auf die Anzahl der Menschen, die an der untersuchten Kläranlage angeschlossen sind, berechnen.

„Inzwischen können wir nachweisen, wie viel Kokain als Pulver geschnupft oder als Crack geraucht wird“

João Matias, Analyst zum Drogenkonsum beim European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction

Präzision und Fallstricke

„Wir sammeln in jeder teilnehmenden Stadt jede Woche Proben und können so fast in Echtzeit analysieren, wo die Hotspots sind, und die verbrauchten Mengen pro 1.000 Menschen an einem bestimmten Tag und in einer bestimmten Stadt bestimmen“, erklärt Matias. Die Präzision ist für ihn einer der entscheidenden Vorteile gegenüber anderen Verfahren. Anders als etwa Umfrageergebnisse liefern die Abwasserdaten ehrlichere Antworten. Teilweise wüssten Konsumenten auch nicht genau, was sie eigentlich einnehmen.

Doch das Verfahren hat auch Schwachstellen. Nicht alle Drogen lassen sich ausnahmslos mithilfe der Abwasseranalyse erkennen. „Wir können keine Daten zu Heroin liefern, weil Heroin im Körper zu Morphin verstoffwechselt“, sagt Matias. Bis heute können Forscher nicht unterscheiden, welches Morphin durch den Konsum von Heroin ins Abwasser gelangt und welches durch das Medikament. Da nur kollektive Abwasserproben gesammelt werden, lässt sich außerdem nicht rückfolgern, ob wenige Menschen viel einnehmen oder viele Menschen kleine Mengen. Auch der Reinheitsgrad der Drogen, die Häufigkeit und die Art und Weise, wie die Drogen eingenommen werden, lässt sich anhand der Metabolite nicht leicht erkennen – außer bei Kokain. „Inzwischen können wir nachweisen, wie viel Kokain als Pulver geschnupft oder als Crack geraucht wird“, sagt der Forscher.

Bei ihrer Analyse müssen die Wissenschaftler außerdem lokale Ereignisse berücksichtigen. Fließt etwa das Abwasser eines Musikfestivals in die Kläranlage einer Stadt, verfälscht das die Daten. Deshalb nehmen die Forscher diese Daten aus der Gesamtanalyse heraus. Auch, wenn etwa durch eine Razzia Drogen pur ins Abwasser gekippt werden, werden die Daten beeinflusst. Für diesen Fall hat das EMCDDA ein weiteres Analyseverfahren parat: Sie können die Substanz im Abwasser direkt untersuchen und zwischen konsumierten und heruntergespülten Drogen differenzieren.

Foto von Pillen und Tabletten in unterschiedlichen Farben, die in durchsichtiger Flüssigkeit liegen. Manche befinden sich in einem Auflösezustand. Die Flüssigkeit schimmert bunt und fluoresziert
WER NIMMT WAS? Partydrogen wie Ecstasy verloren in der Pandemie an Beliebtheit, stattdessen griffen Konsumenten zu Kokain. Das EMCDDA weiß, in welchen Städten welches Rauschmittel am Beliebtesten ist.

Drogen, Krankheiten und Antibiotikaresistenzen

Neben dem EMCDDA nutzen zahlreiche weitere Forschungseinrichtungen die Abwasseranalyse, um etwa die Ausbreitung von Krankheiten zu untersuchen. So soll das Pilotprojekt „SARS-CoV-2-Abwassermonitoring in Thüringen“ der Bauhaus-Universität Weimar und der Analytik Jena GmbH ein flächendeckendes Abwassermonitoring für Coronaausbrüche bere.itstellen. Auch der Lehrstuhl für Siedlungswasserwirtschaft an der TU München forscht an einem ähnlichen Projekt und wird seit dem vergangenen Jahr vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert. 

Durch die Abwasseranalyse könnte man lokale Ausbrüche schneller kontrollieren, da die Daten nicht von der Testbereitschaft der Bevölkerung abhängen. Außerdem liefern die Daten aus dem Abwasser schneller Aufschluss über die aktuelle Lage als Tests und könnten sowohl Mutationen aufzeigen als auch Infizierte erkennen, die keine Symptome spüren. Noch forschen die Lehrstühle an der konkreten Umsetzung, langfristig wollen sie die Methodik auch auf andere Viren übertragen können.

Am Karlsruher Institut für Technologie befasst sich Prof. Dr. Thomas Schwartz mit Abwasseranalysen. Statt Drogen oder Coronainfektionen nachzuweisen, spürte er damit bereits vor der Pandemie Antibiotikaresistenzen auf und entwickelt potenzielle Lösungen, um multiresistente Keime aus dem Abwasser zu fischen. Denn von dort aus stellen die Keime eine wachsende Bedrohung dar, die in Fachkreisen zu Unruhe führt. „Es wird bereits heute prognostiziert, dass Infektionen mit antibiotikaresistenten Keimen im Jahr 2050 für zehn Millionen Tode im Jahr verantwortlich sein werden und damit Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Diabetes als Todesursache überholen“, sagt er. Mit der Abwasseranalyse lässt sich die Konzentration der Keime nachweisen und die Entwicklung überwachen.

„In Zukunft wird das Abwasser zu einem Frühwarninstrument werden.“

JOÃO MATIAS

Was darf die Abwasseranalyse?

So reizvoll das Potenzial der Abwasseranalyse auch klingt, für João Matias kommt es auf die Anwendung an. Damit die Analyse nicht zu falschen Zwecken eingesetzt wird, hat er bereits 2015 ethische Leitlinien mit dem Team der EMCDDA entwickelt. Demnach sollte die Abwasseranalyse nur in Städten und nicht in kleinen Gemeinden angewandt werden, damit einzelne Menschen nicht identifiziert werden können. Auch die Verwendung in Schulen oder Gefängnissen ist laut Matias nicht Sinn und Zweck der Analyse. In einigen Ländern wird sie dennoch dafür benutzt. Das ist möglich, weil die Leitlinien nicht rechtlich bindend sind.

Der Zweck der Analyse liegt für ihn und das EMCDDA vielmehr darin, großflächige Entwicklungen frühzeitig aufzuzeigen und auf Gefahren hinzuweisen – egal, ob es um Drogenkonsum oder Krankheiten geht. So könnte die Abwasseranalyse unter anderem auch dabei helfen, die Effektivität von politischen Maßnahmen wie Suchtprogrammen auszuwerten. Proben könnten vor und nach einem Programm gesammelt und ausgewertet werden. Und zuverlässige Ergebnisse liefern.

Darin sieht der Analyst die Stärke des Verfahrens und ist sich sicher: „In Zukunft wird das Abwasser zu einem Frühwarninstrument werden.“

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