„WASSERSTOFF IST EIN EUROPÄISCHES THEMA“

Herr Siemermann, wir erreichen Sie im ostfriesischen Leer. Was macht die Region für die Energiewirtschaft interessant?
Die Infrastruktur ist hier gegeben, vor allem gute Anbindungen an Gaslieferanten wie Norwegen, die bereits seit den 1970ern ausgebaut wurden. In Ostfriesland und der Region haben wir jetzt die Chance, vorhandene Strukturen auf einem viel höheren Niveau als bisher nutzbar zu machen und noch dazu mit einem nachhaltigen Ansatz. Außerdem produzieren wir in Norddeutschland viel Strom aus erneuerbaren Energiequellen, die hier durch Windkraft in besonders hohem Maße zur Verfügung steht.
Mit Ihrem Team prüfen Sie vor allem Gaspipelines. Wie hoch ist der Anteil mit dem Thema Wasserstoff bei Ihrer Arbeit?
Der Anteil ist stetig wachsend – es wird spürbar mehr. Aktuell liegen rund 30 Prozent unserer Tätigkeiten im Bereich Wasserstoff. Aber wir gehen mit dem Trend: Derzeit entstehen viele neue Leitungen zur Anbindung der Flüssiggasterminals. Diese LNG-Pipelines sind bereits so angelegt, dass sie künftig auch mit Wasserstoff betrieben werden können. Auch, wenn Bestandsanlagen umgebaut und modernisiert werden, wird die Wasserstoffnutzung immer schon berücksichtigt.
Der European Hydrogen Backbone soll bis 2040 28 Mitgliedsstaaten vernetzen. Die geschätzten Kosten dafür liegen zwischen 80 und 140 Milliarden Euro. Wo sehen Sie die größten Herausforderungen in der Größe des Projekts?
Es ist eine Frage der Qualität und der Kapazität – nicht nur mit Blick auf Engineering, Planung und Bauüberwachung, sondern vor allem in Bezug auf die Menschen, die auf den Baustellen „an der Schaufel“ arbeiten. Es gibt aktuell viele Investitionen in andere Energieinfrastrukturprojekte, beispielsweise in der Elektrifizierung, sodass der entstehende Personalengpass eine der größten Hürden bei der Realisierung des Hydrogen Backbone sein wird. Zudem sind die benötigten Materialien und Maschinen in geeigneter Qualität immer schwieriger zu bekommen.
Das Projekt Hydrogen Backbone wurde gemeinsam von 33 europäischen Anbietern initiiert. Werden bei Ihrer Arbeit die europäischen Ausmaße des Vorhabens spürbar?
Speziell in meiner Führungsrolle erlebe ich ab und zu die Flughöhe des Projekts. Aber für jemanden, der vor Ort auf einer Baustelle eine Pipeline prüft, ist nicht unbedingt spürbar, dass es sich um ein Netzwerk von über 50.000 Kilometern handelt. Als jemand, der in großen Teilen auch operativ tätig ist, weiß ich: Die Aufgaben, mit denen wir zu tun haben, sind sehr alltäglich und betreffen Rohrabschnitte und Schweißnähte.
„Der Hydrogen Backbone bedeutet europäische Demokratie. Entlang einer europäischen Pipeline kann jeder seinen Beitrag leisten und daraus einen Nutzen ziehen.“
Welche Prüfmethoden kommen bei Ihnen zum Einsatz?
Im Fall eines Pipeline-Neubaus begutachten wir zum Beispiel die Planungsunterlagen. Wie sehen die örtlichen Gegebenheiten aus und ist der Plan umsetzbar? Dann erstellen wir ein entsprechendes Gutachten und überwachen in der Bauphase die Ausführung vor Ort. Die Prüftechnik ist mittlerweile stark automatisiert und hat eine hohe Effizienz. Vom Ultraschall-Scan bis zur Drohne sind wir auch technologisch gut ausgestattet. Die ultimative Aussage über die geforderte Integrität der fertigen Rohrleitung bringt die abschließende Festigkeits- und Dichtheitsprüfung. Für die Überwachung im Betrieb setzen wir auch sogenannte intelligente Molche ein – mobile Roboter, die im Rohrinneren entlangfahren und dabei Schäden aufspüren können.
Warum brauchen wir überhaupt ein neues Netz für Wasserstoff? Können wir dazu nicht bestehende Netze, zum Beispiel für Erdgas, nutzen?
Nicht ohne weiteres, denn jedes transportierte Medium – ob Erdgas oder Wasserstoff – hat bestimmte Eigenschaften. Bei Stahl, wie er für Gaspipelines verwendet wird gibt, besteht die Gefahr, dass Wasserstoff in ihn eindringen kann – was zu Rissen im Material führen kann. Das müssen Pipelinebetreiber beachten und spezifische Maßnahmen ergreifen, um dem entgegenzuwirken. Grundsätzlich ist Wasserstoff aber ein beherrschbares Medium.
Mit welchen Gedanken gehen Sie in die Zukunft des Projekts?
Der Hydrogen Backbone bedeutet für mich europäische Demokratie. Jedes Land bekommt ganz konkrete Aufgaben und kann von den Vorteilen des Hydrogen Backbone profitieren. Ein sonnenreiches Land wie Spanien beispielsweise kann im Sommer viel Wasserstoff aus erneuerbaren Energien produzieren. Umgekehrt können Dänemark oder wir in Norddeutschland an windreichen Wintertagen viel Energie zu diesem Zweck nutzbar machen. Entlang einer europäischen Pipeline kann jeder seinen Beitrag leisten und daraus einen Nutzen ziehen. Wasserstoff ist ein europäisches Thema. Es würde mich freuen, wenn wir das weiter gemeinschaftlich anpacken könnten.