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TOTAL RECALL

—— Wie die Digitalisierung unser Erinnern verändert – und was das für jeden Einzelnen, aber auch für Unternehmen bedeutet.

In einem Hinterhof steht ein Mädchen, das einen Luftballon in der Hand hält. Teile des Bildes, wie das Gesicht, sind verpixelt.

TEXT STEPHANIE NEUMANN
FOTO DIANE MEYER

Eine Reise erlebte eine Freundin von mir überwiegend durch ihre Digitalkamera. Erst als diese auf dem Rückweg verloren ging, hat sie festgestellt, dass sie kaum eigene Erinnerungen an den Ausflug hat. Ihr Reiseerlebnis ist auf die Speicherkarte der ­Kamera quasi ausgelagert. Dieser Vorgang betrifft nicht nur Urlaubsbilder oder Videoaufnahmen von einem Konzert. Auch Telefonnummern, Adressen, Termine, Fahrtrouten und viele andere Informationen, die im Alltag wichtig sind, werden kaum noch niedergeschrieben oder bewusst memoriert. Solche Daten verschwinden aus dem Gedächtnis oder erreichen dieses gar nicht erst. Viele Menschen vertrauen da­rauf, dass Datenspeicher ihnen die Erinnerungsarbeit abnehmen. Etliche kennen nicht einmal mehr ihre eigene Telefonnummer auswendig. Das brauchen sie auch nicht unbedingt. Denn das Erinnerungsvermögen der digitalen Geräte ist nahezu grenzenlos. Festplatten und Clouds ermöglichen es, Ereignisse und Fakten permanent zu archivieren und jederzeit wieder hervorzuholen. Der Mensch delegiert das Erinnern so zunehmend an die Technik.

Die Digitalisierung verändert unseren Blick auf die Vergangenheit fundamental. Weil digitale Speicher grenzenlos sind, schwillt die digitale Erinnerung endlos an. Wir verlieren den Überblick und geben die Kontrolle über unser Erinnern an Algorithmen und ihre Urheber ab. Deshalb können wir unseren digitalen Erinnerungen kaum noch entkommen. Alles Vergangene wird zur Gegenwart, jederzeit abrufbar. Was uns jedoch fehlt, ist die Fähigkeit, mit den veränderten Bedingungen des Erinnerns sinnvoll und selbstbestimmt umzugehen. Das Smartphone ist unser ständiger Begleiter. Daten sind nahezu immer und überall verfügbar. Jeder Moment kann sofort bildlich festgehalten werden. Doch Daten selbst sind noch keine Erinnerungen. Für das rasante Anwachsen der digitalen Archive gibt es bisher kaum adäquate Kul­turtechniken des Erinnerns.

Bild eines Hinterhofs. Im Vordergrund ist eine Treppe zu sehen. Eine Frau geht auf die Treppe zu. Teile des Bildes sind verpixelt, wie das Gesicht der Frau. Die Verpixelungen sehen aus wie ein Strickmuster.

„Die Digitalisierung verändert unseren Blick auf die Vergangenheit fundamental.“

Bewahren oder löschen

Erinnerung ist das Abrufen von im Gedächtnis gespeicherten Wahrnehmungen, Erlebnissen oder Bedeutungen. Sie können unter anderem hervorgerufen werden durch einen Geruch, ein Geräusch, durch eine bestimmte Situation oder ein Bild. Schon in der ältesten erhaltenen rhetorischen Prosaschrift in lateinischer Sprache – der „Rhetorica ad Herennium“ aus dem Jahr 85 vor Christus – wird betont, dass vor allem lebendige Bilder im Gedächtnis bleiben. Erinnerungen können mit Orten, Menschen oder Erlebnissen verknüpft sein. Mit der Zeit verweben sie sich ineinander, verweisen aufeinander, sind nicht chronologisch.

Möbel, Kleidungsstücke, Fotos, Briefe: Viele Dinge unseres Lebens bewahren wir auf, um uns an besondere Personen, Lebensphasen und Momente besser erinnern zu können. Wenn physische Erinnerungsstücke an Bedeutung verlieren, geben wir sie weg. Menschen, denen das Ausmisten schwerfällt, können es von Marie Kondo und anderen Ratgebern lernen. Best-Practice-Methoden, wie mit digitalen Erinnerungen umzugehen ist, gibt es dagegen noch nicht. Unsere Postings, Bilder, Videos oder Chatarchive können stellvertretend für viele Lebenserfahrungen stehen und Stützen für das autobiografische Gedächtnis sein. Doch was lohnt sich, gespeichert zu werden? Und was sollte besser von der Festplatte gelöscht werden? Bei digitalen Daten stellen wir uns diese Fragen in der Regel nicht. Denn Speicherplatz kostet nicht viel und steht fast unbegrenzt zur Verfügung. Das Resultat: massive Archive virtueller Besitztümer. 

Durch mobile Technologien und Cloud-Computing wird der Zugang auf alles Digitale von nahezu überall ermöglicht, und so verteilen wir unsere virtuellen Dinge auf viele verschiedene Dienste. Die Zugänglichkeit wird erhöht; gleichzeitig nimmt der Bezug zu einem festen Ort ab. So verlieren wir schon mal den Überblick darüber, was wir besitzen und wo es sich befindet.

Die Herausforderung ist vor allem eine Priorisierung und Kuratierung der digitalen Erinnerungen. Softwarelösungen können uns dabei helfen, zwischen erinnerungswürdigen und unwichtigen Daten zu unterscheiden, indem über das
Interfacedesign die Möglichkeit unterstützt wird, unsere Daten schon im Prozess zu verwalten. So könnte beispielsweise eine sofortige Verschlagwortung angeregt oder eine begrenzte Lebensdauer von Dateien festgelegt werden, um gar nicht erst diesen Datenberg entstehen zu lassen. Gleichzeitig sind Interfaces erforderlich, um Zusammenhänge von Daten und damit Kontexte erkennbar zu machen. Beispielsweise könnte ein Foto von einem Konzertabend zusammen mit der Konzertkarte, den Postings auf sozialen Netzwerken und zugehörigen Audio- und Videofiles dargestellt werden. Auch wären unterschiedliche Interaktionsformen wünschenswert, die, abseits vom Klick auf eine Datei, ein vielschichtiges Erleben und Erinnern ermöglichen.

Das Verhältnis von Dokumentation und Erleben scheint diametral auseinanderzugehen – je mehr wir dokumentieren, desto weniger erleben wir den eigentlichen Moment und desto weniger erinnern wir uns später daran. Vielleicht sollten wir das Smartphone häufiger in der Tasche lassen. Gerade in den besonderen Augenblicken des Lebens. So spüren wir diese intensiver und bewahren sie umso länger im Gedächtnis.

Bild einer weißen Kaffeetasse mit blauem Muster. Eine Hand rührt mit einem Löffel den Schaum um. Teile des Bildes sind mit einem Strickmuster verpixelt.
VERSTRICKT Was aussieht wie eine technische Panne, ist Handarbeit. Die Fotografin Diane Meyer „verpixelt“ Teile ihrer Fotos mit Strickmustern, um die unvollkommene Natur unseres Gedächtnisses zu zeigen.

Vergeben und vergessen

Erinnern ist ein Prozess, dessen wir uns in dem Moment bewusst sind. Ein bewusstes Vergessen gibt es hingegen nicht. Vergessen ist die Abwesenheit von Erinnerung. Das menschliche Nervensystem erfordert die Fähigkeit, nicht nur zu erfassen und zu speichern, sondern auch zu vergessen. Vergessen löscht nicht die komplette Vergangenheit, sondern lässt sie lediglich verblassen, sodass bedeutsame Erinnerungen nicht durch weniger wichtige überlagert werden. Vergessen ermöglicht Erinnern. Eine Person, die nicht vergessen kann, läuft Gefahr, den Verstand zu verlieren. Was bedeutet das für die digitale Welt?

Im Digitalen ist das aktive Vergessen nicht vorgesehen und setzt einen bewussten Löschvorgang voraus. In der EU-Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) wird das Recht auf Löschung im Artikel 17 geregelt. Das Recht auf Vergessenwerden soll sicherstellen, dass digitale Informationen mit dem Bezug auf eine Person nicht dauerhaft zur Verfügung stehen. Menschen können von Internet-Suchmaschinen verlangen, dass bestimmte Inhalte zu ihrer Person nicht mehr in den Suchergebnissen auftauchen, sollte das ihr Recht auf Privatsphäre verletzen. Allerdings ist es schwierig, Kopien und deren Verbreitung im Internet zu verhindern – nicht zuletzt wegen des sogenannten Streisand-Effekts: Der Versuch, eine unerwünschte Information zu unterdrücken, kann erst recht öffentliche Aufmerksamkeit erregen und damit das Ziel konterkarieren. Dieser Effekt ist insbesondere für Unternehmen relevant, für deren Erfolg die öffentliche Reputation große Bedeutung hat. Diese müssen lernen, wie sie mit der Tatsache umgehen, dass alle ihre Handlungen und Botschaften sofort in das kollektive Gedächtnis des Internets eingehen.

Die Deutsche Bahn wurde kürzlich vom Streisand-Effekt getroffen. In einem ihrer Züge fuhr die Klimaaktivistin Greta Thunberg. Sie twitterte ein Foto von ihrer Reise. Man sieht Thunberg zwischen Gepäckstücken auf dem Waggonfußboden kauern. Eigentlich hätte die Deutsche Bahn dieses Bild hervorragend als positive Werbung für sich verwenden können: Offenbar nutzen so viele Reisende das umweltfreundliche Verkehrsmittel, dass alle regulären Sitzplätze belegt waren.

Die Kommunikationsabteilung der Deutschen Bahn jedoch verstand den Tweet als Kritik und reagierte empfindlich. Als Antwort warf sie Thunberg vor, das Foto gestellt zu haben und in Wahrheit bequem in einem Sitzplatz erster Klasse gereist zu sein. Dieser Twitter-Dialog wurde von vielen Menschen geteilt. So wurden Journalisten aufmerksam. Sie recherchierten und publizierten den Vorfall: Tatsächlich hatte Thunberg infolge des Ausfalls eines ICEs in einem überfüllten Zug auf dem Boden reisen müssen. Für die Deutsche Bahn regnete es Kritik: nicht nur wegen des Zugausfalls und der mangelnden Sitzplätze, sondern insbesondere wegen der unglücklichen Kommunikation gegenüber Greta Thunberg. Das Unternehmen hatte womöglich sogar gegen Datenschutzbestimmungen verstoßen, als es Thunbergs Reisebuchung auf Twitter publik machte. Ein PR-Desaster. Wer sich in den sozialen Medien öffentlich äußert, muss seine Worte gut abwägen. Denn ein Vergeben und Vergessen gibt es in der digitalen Sphäre nicht.

Geteilte Erinnerungen

„Erinnerung entsteht im Dialog. Sie erwächst nicht nur aus eigenen Erfahrungen, sondern auch aus dem Gedankenaustausch mit anderen“, schrieb der Neurologe Oliver Sacks. Genau das passiert in sozialen Netzwerken wie Facebook oder in Foto- und Video-Sharing-Apps wie Instagram oder TikTok. Deren Mitglieder können Situationen für sich und andere festhalten – als geteilte Erinnerungen. Teilen bedeutet bewahren.

Die breite Partizipation in sozialen Netzwerken macht das Teilen von unterschiedlichen Sichtweisen auf kollektiv Erlebtes und damit ein ausdifferenziertes Erinnern möglich, beispielsweise anlässlich des 30-jährigen Jubiläums des Mauerfalls. Auch ein plattformübergreifendes gemeinsames Gedenken kann stattfinden: Der Tod von Basketball-Legende Kobe Bryant etwa wurde auf Twitter, Facebook und Instagram vorübergehend zu einem der beherrschenden Themen – weltweit gedachten Menschen seiner gemeinsam online. Die Kommunikation in sozialen Netzwerken bietet sich zur Ausbildung feingliedriger Erinnerungsebenen an. Zeitgleich und auch zeitlich versetzt können sich viele Teilnehmer an öffentlichen digitalen Orten zu einem Thema äußern und so eine kollektive Erinnerung erschaffen.

Wie Erinnerungen geteilt werden, wird zunehmend beeinflusst durch Algorithmen. Mit der wachsenden und umfassenden Aufzeichnung von Ereignissen und Erinnerungen via Social Media, Websites und Blogs werden auch viele private Informationen trackbar und auffindbar. Alles Vergangene kann wieder zur Gegenwart werden, jederzeit abrufbar. Das macht ein Entkommen vor unerwünschten Erinnerungen zunehmend schwierig. Zugleich stellt sich die Frage, wer die Kontrolle über dieses digitale Gedächtnis hat und gezielt darauf zugreifen kann. Bislang gibt es keine Transparenz über die Arbeitsweise der Algorithmen oder darüber, wie Plattformen die Daten und Erinnerungen verarbeiten. Doch wer die Kontrolle über das digitale Gedächtnis besitzt, steuert auch, was in welcher Form bewahrt und erinnert wird. 

Bild der Fotografin Stephanie Neumann. Das Bild erscheint alt und ist in Sepia gehalten. Im oberen Bildausschnitt ist ein Smartphone, welches das Gesicht der Frau zeigt.
STEPHANIE NEUMANN arbeitet als Fotografin und Forscherin in Berlin. Sie inte­ressiert sich für Erinnerungen, Interfaces und die Tangenten von digitaler und analoger Welt.

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