Das Zukunftsmagazin von TÜV SÜD

KÜNSTLICH KREATIV

—— Produkte empfehlen, Büroarbeiten erledigen, Profis in Strategiespielen bezwingen: alles schon lange kein Problem mehr für künstliche Intelligenz. Nun sollen die Algorithmen auch in Sphären der Sprache, Musik und bildenden Kunst vordringen. Aber wie kreativ kann ein Computer sein?

Ein Roboter mit dem Gesicht einer menschlichen Frau.

TEXT JAN SCHULTE, LARS­THORBEN NIGGEHOFF, NILS WISCHMEYER

Im Jahr 1950 veröffentlichte der Chef der Computerabteilung an der Universität Manchester einen Artikel, der sich wie Science-Fiction las. Könnte es möglich sein, so fragte ein gewisser Alan Turing damals, dass Maschinen jemals im menschlichen Sinn denken? Turing schlug ein Testverfahren vor: Ein Mensch unterhält sich mit einer Maschine und einem anderen Menschen. Erst wenn er nicht mehr sagen kann, wer die Maschine ist, hat diese den Test bestanden – und besitzt so etwas wie künstliche Intelligenz.

Noch immer streiten Wissenschaftler, ob je eine Maschine diesen sogenannten Turing-Test bestanden hat. Und doch umgibt uns die künstliche Intelligenz (KI) heute an vielen Stellen. Software-Übersetzung, Aktienkursprognosen, Produktempfehlungen, Sprach- und Gesichtserkennung: All das funktioniert mit künstlicher Intelligenz. Algorithmen analysieren riesige Datenmengen, erkennen Muster und nutzen sie, um Probleme zu lösen. Mit der Zeit verstehen sie, wann sie Fehler machen und wo sie richtig liegen. Sie lernen dazu.

„Wir müssen uns dem Thema KI und Kunst pragmatisch nähern.“

REINHARD KARGER

Nachdem Maschinen im 19. Jahrhundert in den Produktionshallen etabliert wurden, sind Computer inzwischen auch im Büro angelangt. Nur in einer Sphäre sind sie bislang kaum präsent: Kreativität stellte selbst die smartesten Algorithmen vor ein Pro­blem. Während kluge Computer seit Jahren besser rechnen, Muster erkennen oder Aufgaben abarbeiten können als der Mensch, schwächeln sie, wenn es darum geht, komplett neue Dinge zu erschaffen oder eigenständig zu denken.

Inzwischen ist selbst die Vorstellung der Maschine als Künstler nicht mehr gänzlich absurd. „Wir müssen uns dem Thema KI und Kunst pragmatisch nähern“, sagt etwa Reinhard Karger. Karger hat theoretische Linguistik und Philosophie studiert, seit 27 Jahren arbeitet er am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz. KI gebe Künstlern derzeit vor allem großartige Werkzeuge an die Hand und sei insofern erst einmal nichts anderes als ein Stift, argumentiert er. Kombinatorisch könne KI schon heute künstlerisch arbeiten. Sie könne Bekanntes neu kombinieren und so etwa den Stil eines bekannten Autors oder Komponisten imitieren. Bei der tatsächlichen Kreation aber stoße sie noch immer an Grenzen. „Dafür fehlt ihr der Zugang zum Menschsein“, sagt Karger.

Aber ist ein Algorithmus deswegen nicht kreativ? Das Auktionshaus Christie’s verkaufte Ende 2018 erstmals ein mithilfe von KI „gemaltes“ Gemälde – für 432.500 US-Dollar. Computer verfassen mittlerweile eigenständig Sportnachrichten und Pressemitteilungen. Sänger komponieren mithilfe von KI neue Klänge und vollständige Songs. Und so stellt sich eine Frage: Wie kreativ kann ein Computer überhaupt sein?

Kunst

VON TÄUSCHER-ALGORITHMEN UND KAMERAAUGEN

Ai-Da steht vor einer mintgrünen Wand, bereit für eine knifflige Aufgabe. Die Künstlerin mit schwarzen Haaren, dunklen Augen und dem weißen Kittel voller Farbspritzer soll Bewusstsein malen: Aber wie sieht Bewusstsein aus? Blau? Rot? Abstrakt? Detailliert? Für Ai-Da ist die Sache noch komplexer. Denn das Bewusstsein, das sie ausdrücken soll, hat sie nicht.

Ai-Da ist ein Roboter, erschaffen vom Galeristen Aidan Meller, ausgestattet mit einem Algorithmus von Forschern der Universitäten Oxford und Leeds. Ihre Haut besteht aus Silikon, ihre Augen aus Kameras. Mit ihnen zeichnet sie auf, was vor ihr passiert, und bringt genau das auf die Leinwand. Der Algorithmus hilft ihr, die Eindrücke zu abstrahieren. Wie das genau funktioniert, mag Meller nicht verraten, nur so viel: Das Bild der Kameraaugen durchläuft mehrere Ebenen, die Filtern ähneln. Der Algorithmus sorgt dafür, dass jeder Entscheidungsprozess einzigartig bleibt. Ai-Da nimmt niemals den gleichen „gedanklichen“ Weg. Jedes ihrer Kunstwerke ist individuell.

Eine Million Euro haben die Bilder der Maschine bislang eingebracht. Aber ist das Kunst und wirklich kreativ? Oder nur die Replikation von Bekanntem auf Befehl des Algorithmus? „Menschen schaffen aus dem, was sie sehen, etwas Neues und nennen es Kunst. Genau das macht Ai-Da auch“, findet Meller. Klar, Ai-Da habe kein Bewusstsein, keine Gefühle, aber kreativ sei sie trotzdem, „weil sie aus Bekanntem etwas Neues schafft“.

In einem goldenen Rahmen ist eine Malerei zu sehen, die einen verschwomenen Mann zeigt.
ERTRAGREICHE KUNST Das von einem Algorithmus kreierte „Portrait of Edmond de Belamy“ brachte fast 500.000 US-Dollar.

Rund 400 Kilometer entfernt verraten die drei Gründer von Obvious ein wenig mehr über die Technologie ihres Kunstprojekts, das ihnen ebenfalls schon eine Menge Geld eingebracht hat. Das „Portrait of Edmond de Belamy“ zeigt einen Mann, gekleidet in Schwarz, leicht verschwommen – und hat bei einer Auktion fast eine halbe Million Euro erzielt. Der Algorithmus, der das Bild kreiert hat, wurde nur für dieses einzige Bild geschrieben, wie Gauthier Vernier, einer der drei Gründer, erklärt.

Die Künstler ließen dabei zwei Algorithmen eine Art Spiel gegeneinander austragen. Sie fütterten Algorithmus 1 mit vielen älteren Porträts. Er wusste danach, wie ein klassisches Porträt auszusehen hat. Algorithmus 2 ließen sie darüber im Dunkeln. Er bekam stattdessen die Aufgabe, ein Bild zu malen, das Algorithmus 1 für „echt“ hält. Dann begann das Spiel. Das erste Bild von Algorithmus 2 hatte nichts mit einem klassischen Porträt zu tun und wurde abgewiesen. Das zweite ebenso. Aber der Täuschungsalgorithmus wurde mit jedem Versuch besser. „Man muss sich einen Lehrer vorstellen, der alle Picassos der Welt kennt, und einen Schüler, der keinen Picasso kennt und doch einen täuschend echten malen soll. Das übt er nun so lange, bis der Lehrer überzeugt ist“, erklärt Vernier. Sobald Algorithmus 2 den Prüfalgorithmus in 51 Prozent aller Versuche täuschen konnte, ließen sie ihn aus dem „Erlernten“ ein Bild kreieren, das auf den alten Mustern beruht, aber doch völlig neu ist.

Die Maschine als Künstler, als kreativer noch dazu? Vernier winkt ab. Er betrachtet den Algorithmus wie KI-Experte Karger als Instrument. Immerhin hätten ihn Menschen beeinflusst, geschrieben und mit ausgewählten Datensets gefüttert. „Wir glauben zwar, dass der Algorithmus etwas erfinden kann, weil er aus Bekanntem Neues macht und es einen zufälligen Faktor gibt, den wir auch nicht beeinflussen können“, sagt er. Auch habe die KI einen eigenen Stil, den man erkennen könne, beispielsweise weil sie Pixel setze, wo sie die meisten Menschen bei Porträts nicht vermuten würden. „Aber die Maschine wird nicht komplett ‚out of the box‘ denken wie ein Van Gogh oder andere Künstler und so etwas schaffen, was viele erst kreativ nennen“, sagt Vernier.

Als Kunst betrachtet er die Werke des Algorithmus trotzdem, das habe die Auktion des Bildes ja bereits gezeigt. Und sowieso: Am Ende liegt Kunst doch im Auge des Betrachters – ob nun eines echten oder einer Kamera.

Musik

VON BEATS UND KÜNSTLICHEN KLANGTEPPICHEN

Gleich zu Beginn ihres Videos zum Song „Break Free“ blickt Taryn Southern dem Zuschauer direkt in einer Nahaufnahme entgegen und singt: „I wish I could see beyond what I can see.“ Die Kamera fährt ruckartig immer näher ihr Gesicht heran. Southern verzieht keine Miene. Alles sieht so aus wie in Dutzenden anderer Popsongs zuvor. Und alles hört sich auch genauso an. Nur dass Southern den Song nicht selbst arrangiert, sondern mithilfe einer KI komponiert hat. So wie das gesamte Album, auf dem er erschienen ist.

Seit Taryn Southern 2017 ihr KI-Album veröffentlicht hat, ist sie zu einer Art Botschafterin für künstliche Intelligenz im Musikgeschäft geworden. Bei der Produktion des Albums testete sie gleich mehrere Musik-KIs aus. „Im Grunde funktionieren alle nach einem ähnlichen Prinzip“, erklärt sie. „Man füttert die KI mit Daten, wie zum Beispiel einer Reihe von Musikstücken aus den 1970er-Jahren, und die KI verwendet sie, um neue Musik zu erzeugen, die innerhalb dieses Genres ähnlichen Mustern und Regeln folgt.“ Southern bekommt dann im ersten Schritt einen Vorschlag vorgespielt. Indem sie weitere Daten hinzugibt, kann sie die KI in die gewünschte Richtung lenken. Danach kann Southern weiter justieren und etwa die ­Beats per Minute hochschrauben. Im Grunde macht Southern nichts anderes, als wenn sie in ein Produktionsstudio gehen würde. Nur dass sie mithilfe der KI alles in Eigenregie steuern kann. Sie braucht weder andere Musiker noch einen Producer, der neben ihr sitzt. 

Besonders am Anfang einer Musikerkarriere könne das enorm helfen, da es vielen Künstlern an Ressourcen für teure Producer fehle, sagt Southern. Je nach Programm produziert die KI am Ende des Prozesses eine Audiodatei des fertigen Songs oder mehrere kleinere Schnipsel der einzelnen Instrumente. Manche Programme werfen auch – ganz klassisch – Noten aus. „KI wird die Musikbranche wohl nicht völlig auf den Kopf stellen, aber sie wird für viele Musiker ein absolut neues praktisches Tool für ihren Kompositionsprozess sein“, schätzt Southern.

Bild eines Laptops mit Tonspur, sowie DJ-Equipment.
KI MIT MASSENGESCHMACK Dass Musik (auch) am Computer erzeugt wird, ist nicht erstaunlich; das dieser selber sampelt, schon.

Dabei lässt sich KI nicht nur für die Produktion eines neuen Musikalbums einsetzen. In Berlin hat Gründer Oleg Stavitsky gemeinsam mit einem kleinen Team die App Endel entwickelt. Sie liefert in Echtzeit entwickelte Klänge, die sich an die Tageszeit, das Wetter oder auch die eigene Herzfrequenz anpassen. Diese Klänge, die gern mal an Film­musik eines Science-Fiction-Streifens erinnern, sollen helfen, sich zu konzentrieren, einzuschlafen oder einfach nur zu entspannen. Die Daten für die KI stammen vom Komponisten und Mitgründer Dmitry Evgrafov. Sobald ein Nutzer die App aktiviert, greift sie auf das Werk des Komponisten zurück, bezieht Parameter wie die Tageszeit mit ein und entwickelt daraufhin passende neue Klänge.

Im Frühjahr 2019 schloss das Plattenlabel Warner einen Vertrag mit Endel ab und veröffentlichte 20 von der KI erstellte Alben auf Musikstreamingdiensten wie Apple Music oder Spotify. Für dieses Jahr haben sich die Entwickler noch ambitioniertere Ziele gesteckt: Bald soll Endel auch für die passende Atmosphäre bei Autofahrten sorgen.

Sprache

VON GHOSTWRITERN UND TEXTMASCHINEN

Generative Pre-trained Transformer 3: Dieser sperrige Name versetzte die Welt der professionellen Texter im Juni 2020 in Aufruhr. Dahinter steckt eine Textmaschine, angetrieben von künstlicher Intelligenz und entwickelt von der US-amerikanischen Softwarefirma OpenAI. „Mehr als nur ein bisschen furchterregend“ sei das, schrieb die New York Times. Der britische Guardian ließ direkt einen ganzen Artikel zu KI und ihren möglichen Gefahren verfassen – und zwar von der KI selbst. Selbst die Entwickler warnten parallel zur Veröffentlichung ihrer Idee vor Risiken und Nebenwirkungen der Technologie.

Um zu zeigen, was GPT-3, so der Kurzname der Technologie, kann, luden ihre Entwickler die Pressemitteilung zur Veröffentlichung nur halb auf die eigene Website. Wer den Rest lesen wollte, konnte ihn sich von GPT-3 generieren lassen. Unterschiede zum ersten, vom Menschen verfassten Teil gab es kaum.

Dabei ist die Technologie der Textmaschine im Grunde nicht neu. Das Programm lernt anhand bestehender Texte, mit welchen Wahrscheinlichkeiten Wörter oder Sätze aufeinander folgen. Die reine Datenmasse, mit der der Algorithmus gefüttert wurde, sowie seine Finesse und Feinabstimmung waren allerdings so gut wie nie. Selbst ein von KI verfasster Roman könnte so in Zukunft denkbar sein.

Ross Goodwin hat diese Idee bereits ausprobiert. Früher arbeitete der US-Amerikaner als politischer Ghostwriter, heute bezeichnet er sich als Forscher im Grenzbereich zwischen KI, Literatur und Film. Goodwin hat mithilfe von KI Drehbücher verfasst und sie mit Schauspielern wie Thomas Middleditch und David Hasselhoff verfilmt. Als ihm das nicht mehr reichte, startete er das Projekt „1 the Road“. Ein maschinell kreiertes Stück Literatur.

Bild von einer Überwachungskamera in einem Kofferraum eines Autos.
KI MIT RUNDUMBLICK Damit das Auto für „seinen“ Roman auch visuellen Input bekommt, wurde es mit einer Kamera am Heck ausgestattet.

„Ich wollte schon länger ein Auto einen Roman schreiben lassen.“

ROSS GOODWIN

Als Basis für seine Idee nahm er sich schließlich den Roman „On the Road“ vom US-amerikanischen Beat-Autor Jack Kerouac vor. Wie die Vorlage sollte auch sein Werk auf einem Roadtrip von New York nach New ­Orleans entstehen. Nur dass nicht Goodwin zur Feder greifen und von seinen Erlebnissen berichten würde, sondern eine Software bestehend aus Code. 2017 rüstete er ein Auto nach seinen Vorstellungen um: eine Kamera am Heck, um Landschaften zu filmen, ein Mikrofon im Innenraum, um Gespräche aufzuzeichnen, ein GPS, das den aktuellen Standort trackt. Unmengen an Daten also für den Algorithmus, um daraus einen Roman zu formen.

Und das Ergebnis? War „abgehackt“ und mit Rechtschreibfehlern übersät, wie Goodwin selbst zugibt. „Das Ganze war ein Experiment und entsprechend habe ich das Ergebnis dann auch genauso veröffentlicht“, erzählt er. Während das Werk des Vorbilds mit dem nüchternen Satz „Ich traf Dean zum ersten Mal, kurz nachdem meine Frau und ich uns getrennt hatten“ beginnt, steigt Goodwins Auto mit „Es war neun Uhr siebzehn am Morgen, und das Haus war schwer“ deutlich mysteriöser ein.
Der Grund für die unterschiedliche Performance von GPT-3 und Goodwins Auto: Texte wie Pressemitteilungen, Sportmeldungen oder Börsenberichte folgen klaren Formeln. Mustern, die eine KI erlernen kann. Literatur dagegen lebt gerade vom Chaos der Kreativität. Muster, die sich sinnvoll reproduzieren lassen, sucht künstliche Intelligenz hier bislang vergebens.

Ohne solche Muster aber können Maschinen bislang kaum selbstständig „kreativ“ werden. Ihnen fehlt das, was Menschen Bewusstsein nennen. Ob sie jemals eines entwickeln werden, ist für Reinhard Karger vom KI-Forschungszentrum eine der größten Fragen der Gegenwart. „Niemand hat darauf eine befriedigende Antwort“, sagt er. Naturwissenschaftlich lasse sich nicht ausschließen, dass ein Maschinenbewusstsein irgendwann existieren könne. „Aber aus allem, was wir heute wissen, ist das sehr, sehr unwahrscheinlich.“

FOTOS:

stocksy/Victor Torres (Mikrofon); Ai-Da Robot (Ai-Da); Obvious (Gemälde); Ross Goodwin (Auto); Obvious (Gemälde); Ai-Da Robot (Ai-Da); Devin Mitchell (Albumcover); Getty Images/oxygen (Hintergrund Albumcover);

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