Das Zukunftsmagazin von TÜV SÜD

JUNGBRUNNEN FÜR AUTOS

—— Wie von Zauberhand: Mit Software-Updates, die „over the air“ aufgespielt werden, lassen sich Fahrzeuge mit neuen Funktionen ausstatten – ganz ohne Werkstattbesuch. Allerdings müssen oft noch Sicherheitsfragen gelöst und geeignete Zulassungsverfahren etabliert werden.

Seitenspiegel in Farben

TEXT FELIX ENZIAN

Ein Baustofftransport im Jahr 2030: Der Lkw fährt durch unbefestigtes Gelände. Damit der Lastwagen mit dem Terrain gut zurechtkommt, bucht der Flottenmanager mehr Motorleistung hinzu. Ganz unkompliziert per Mausklick. Nach dem Einsatz setzt er den Motor auf die Werkseinstellung zurück. Denn auf der Straße genügen die standardmäßigen PS, so verbraucht das Fahrzeug auf den gewöhnlichen Routen weniger Kraftstoff. Auch für Pkw sind Funktionen, die bei Bedarf freigeschaltet werden können, längst sehr beliebt. Für eine Reise in den Skiurlaub mit dem Familien-SUV wird zum Beispiel ein Allradantrieb oder eine Sitzheizung aktiviert. Bei der Fahrt zur Arbeit eine Woche später bucht die Fahrerin stattdessen einen Autopiloten, der sie im Berufsverkehr entlastet.

Szenarien wie diese könnten schon in wenigen Jahren Realität werden. Möglich machen sollen dies Aktualisierungen, die „over the air“ (OTA) – also per Internet- oder Mobilfunkverbindung – zum Fahrzeug übertragen werden. Ganz ohne Werkstattbesuch könnte ein und dasselbe Auto dann völlig unterschiedlich konfiguriert werden – und so je nach Bedarf zum leistungsstarken Arbeitstier oder zum energiesparenden Pendelfahrzeug gemacht werden.  

„Für die Fahrzeugindustrie bedeuten Updates ,over the air‘ eine echte Revolution“, sagt Steffen Rilling, Automobilexperte bei der Unternehmensberatung Oliver Wyman. Der Nutzen sei enorm, für die Hersteller ebenso wie für die Autofahrer. Zum Beispiel müssten Wagen für Reparaturen von digitalen Komponenten nicht mehr in die Werkstatt. Das erspare nicht nur dem Halter viel Zeit und Nerven. Teure Rückrufe für ganze Bauserien würden sich erübrigen, wenn Fehler nachträglich per OTA-Aktualisierung behoben werden können. Darüber hinaus könnten Fahrzeuge über ihre gesamte Nutzungsdauer mit neuen Funktionen „verjüngt“ werden, so wie die Verbraucher das von Smartphones und Computern längst gewohnt sind. Sogar gebraucht gekaufte ältere Autos könnten mit neuer Ausstattung aufgewertet werden, solange der Hersteller das Modell mit Updates pflegt.

„Für die Fahrzeugindustrie bedeuten Software-Updates `over the air` eine echte Revolution.“

Steffen Rilling, Automobilexperte bei der Unternehmensberatung Oliver Wyman

NEUE DENKWEISE

Doch ist es wirklich so einfach, ein bestehendes Fahrzeug per Mausklick zu verbessern? Grundlegende Komponenten zumindest – zum Beispiel Batterie, Motor, Antriebsstrang, Bremsen und Lenkung – lassen sich im Nachhinein durch Software-Anpassungen nur so weit verändern, wie die verbaute Hardware dies zulässt. „Um die Technologie voll auszunutzen, müssen Fahrzeugmodelle in Zukunft anders konzipiert werden als bisher“, erklärt Steffen Rilling. „Früher haben Fahrzeugbauer zunächst die Leistungsanforderungen an ein Modell definiert und dann geschaut, mit welchen Bauteilen sie diese Vorgaben möglichst kostengünstig umsetzen können. Künftig werden viele Automodelle ab Werk eine hochwertigere und leistungsfähigere Hardware erhalten, auch wenn diese zunächst noch gar nicht vollständig genutzt wird. So halten die Hersteller ihren Kunden die Möglichkeiten für umfangreiche Updates offen. Das ist eine neue Denkweise.“ Wirtschaftliche Überlegungen spielen dabei eine wichtige Rolle. Die Automobilindustrie zielt auf digitale Geschäftsmodelle, wie man sie heute etwa vom Videostreaming oder von Softwareangeboten kennt: Die Fahrzeugnutzer kaufen bestimmte Funktionen künftig per Abonnement oder „on demand“. Davon verspricht sich die Branche Milliardenumsätze, und zwar kontinuierlich. Denn schon heute ist das sehr einträgliche After-Sales-Geschäft, also der Umsatz mit bereits ausgelieferten Fahrzeugen, ein zentrales Standbein der Hersteller.

Vor allem für Elektro- und Premiumautos sind OTA-Updates schon heute Alltag. Kürzlich hat Volkswagen die eigene ID-Baureihe und elektrische Modelle der Tochtermarken Audi, Škoda und Cupra auf diese Weise mit der neuen Software 3.0 ausgestattet. Diese ermöglicht unter anderem mehr Ladeleistung und mehr Reichweite für die Batterie, eine verbesserte Sprachsteuerung, neue Grafiken und Anzeigen auf den Displays – ohne dass an der Hardware Veränderungen vorgenommen werden mussten.

Für die A-Klasse von Mercedes-Benz gab es immerhin ein OTA-Update mit kleinen Annehmlichkeiten im Cockpit, dazu zählt das Musikstreaming über Tidal und Amazon Music. Und Hyundai beispielsweise versorgt den elektrischen Ioniq 5 mit Karten- und Infotainment-Updates.

Bisher beschränken sich solche Verbesserungen allerdings vorwiegend auf reine Digitalanwendungen. Das hat nicht nur technische Gründe. In Europa verlangt die Richtlinie UNECE R156 von den Herstellern die Einführung und den Nachweis eines Managementsystems für Software-Updates, um eine Typgenehmigung zu erhalten. Die steigende Komplexität der Software-Fahrfunktionen führt allerdings zu neuen Herausforderungen. Sie machen die Überarbeitung bestehender Prozesse für die Typgenehmigung und die Erstellung von Sicherheitsnachweisen für Fahrzeuge notwendig. Bei TÜV SÜD erforscht Christian Pahlke, Head of Future Vehicle Technologies in Deutschland, neue Lösungen, um virtuelle Simulationsverfahren als Unterstützung bei der Validierung von sicherheitsrelevanten OTA-Updates einzusetzen. Sein Ziel: ein rechtlich anerkanntes Verfahren der virtuellen Homologation, also der Zulassung für den Straßenverkehr, zu etablieren. Dieses ist künftig auch für das autonome Fahren von großer Bedeutung. „Mit traditionellen Prozessen wäre es eine Herausforderung, die Homologation für autonome Fahrzeuge auf effiziente und nachhaltige Weise zu realisieren“, sagt Pahlke.

Portrait Christian Pahlke

Sicher in die Zukunft

Updates spielen für Autos eine immer größere Rolle. Christian Pahlke, Head of Future Vehicle Technologies bei TÜV SÜD, arbeitet an geeigneten Zulassungs- und Prüfverfahren für Fahrzeugsoftware.

HOMOLOGATION FÜR SOFTWARE-UPDATES

Bevor in Europa ein neues Automodell die Typgenehmigung erhält und auf den Markt gebracht werden darf, muss der Hersteller damit Millionen von Testkilometern absolviert haben. Nur so kann er dokumentieren, dass das Fahrzeug bei unterschiedlichsten Straßenverhältnissen und Umweltbedingungen in allen denkbaren Szenarien des Straßenverkehrs sicher unterwegs ist. Bevor das Modell dann behördlich zugelassen werden kann, ist zudem ein Gutachten eines technischen Dienstes wie TÜV SÜD erforderlich. „Dieser Prozess gilt auch für sicherheitsrelevante OTA-Updates“, sagt Christian Pahlke. „Aber während neue Fahrzeugmodelle nur etwa alle drei bis sechs Jahre neu auf den Markt kommen und homologiert werden müssen, sollen OTA-Updates künftig mit einer Frequenz von einigen Wochen oder Monaten erscheinen. Wir brauchen deshalb für die Validierung von sicherheitsrelevanten OTA-Updates einen neuen akzeptierten und anerkannten Homologationsansatz zwischen Herstellern, technischen Diensten und Zulassungsbehörden. Dieses Verfahren muss möglichst schnell und zugleich zuverlässig sein.“

Genau damit befasst sich TÜV SÜD. „Der Homologationsprozess an sich bleibt bestehen, jedoch sollen einige Prozessabschnitte automatisiert beziehungsweise digitalisiert werden“, erklärt Pahlke. Einzelne Tests müssten zwar weiter physisch durchgeführt werden, „doch der Hauptanteil der sicherheitsrelevanten Software-Updates könnte simulativ und virtuell abgebildet und geprüft werden. Das führt nicht nur zu einer kürzeren und effizienteren Nachweiserzeugung, sondern ermöglicht es auch, die enorme Varianz und Komplexität zu überprüfen.“ Zudem müssten auch für die Hauptuntersuchung Testkriterien definiert werden, die dem digitalen Innenleben heutiger und künftiger Fahrzeugmodelle gerecht werden.

„Ohne ein wirksames Konzept für die virtuelle Homologation von Software-Updates wird es sehr schwierig sein, künftige Innovationen bei Fahrzeugen umzusetzen.“

Christian Pahlke, Head of Future Vehicle Technologies bei TÜV SÜD
Auto im Farbenbad
ALLES IM FLUSS Über ihre Nutzungsdauer werden sich Autos verändern, weil ihr Funktionsumfang durch neue Software aktualisiert werden kann.

COMPUTER AUF RÄDERN

Die Etablierung von geeigneten Prüf- und Zulassungsverfahren ist eine entscheidende Hürde auf dem Weg zum permanent modernisierbaren Automobil. Eine weitere ist die Fahrzeugarchitektur: Seit den 1990er-Jahren nehmen elektronische Steuerungen und digitale Funktionen in Autos immer mehr zu, längst auch in preiswerten Kleinfahrzeugen. Dass dabei an der einen oder anderen Stelle eine Art Wildwuchs entstanden ist, liegt auf der Hand. „Schätzungsweise 100 Millionen Programmzeilen Softwarecode stecken in einem heutigen Fahrzeug. Diese sind allerdings auf ungefähr 100 unterschiedliche Steuergeräte verteilt. Diese ungeheure Komplexität macht es sehr schwierig, mehrere Funktionen zugleich durch ein einzelnes Update effizient zu aktualisieren. Nur durch ein zentralistisches System können die Hersteller das in den Griff bekommen. Wie Smartphones brauchen Autos ein übergreifendes Betriebssystem, an dem alle anderen Software-Anwendungen andocken“, erläutert Automobilexperte Steffen Rilling von Oliver Wyman.  

Manche Automobilbauer kooperieren für diese Technologie mit Partnern, etwa mit Google, dessen  Android-System es auch für Autos gibt. Andere Hersteller wie Volkswagen, BMW und Mercedes­­-Benz nehmen den Aufwand auf sich, ein eigenes Betriebssystem zu entwickeln. „Das hat für sie den Vorteil, dass sie diese wichtige Schnittstelle zum Kunden selbst besetzen und in die eigene Wertschöpfung integrieren können“, so Rilling. Die Folge: „Fahrzeughersteller stehen heute vor der Herausforderung, dass sie auch zu Softwareunternehmen werden müssen. Davon hängt ihre Zukunftsfähigkeit ab. Für sie ist diese Transformation noch weitreichender als der Wechsel von konventionellen zu alternativen Antrieben.“

Vom Auto der Zukunft wird viel erwartet. Es soll einen minimalen Verbrauch haben, selbstständig steuern, Gefahren erkennen und vermeiden, per Software-Update „over the air“ funktional und sicherheitstechnisch stets auf neuestem Stand sein. Die Eigenschaft, die all dies möglich machen könnte, heißt: Konnektivität. Die Verbindung des Fahrzeugs mit der Umgebung durch Sensorik, Mobilfunk und Internet ist Voraussetzung für das hochautomatisierte Fahren und auch für die OTA-Updates. „Konnektivität ist Chance und Gefahr zugleich, denn natürlich entstehen dadurch auch Sicherheitsrisiken“, erklärt Christian Pahlke von TÜV SÜD. Selbst unkritische Systeme wie ein Infotainment können ein Einfallstor sein, durch das Cyberkriminelle sicherheitsrelevante Funktionen eines Fahrzeugs manipulieren können. Auch diesen Aspekt hat TÜV SÜD bei der Entwicklung einer virtuellen Homologation im Blick. Denn schließlich soll auch noch in zehn Jahren gelten: Ein Fahrzeugtyp, der für den Straßenverkehr zugelassen ist, erfüllt höchste Sicherheitsanforderungen.

FOTOS:

Getty Images/Artur Debat (Auto); Lara Freiburger (Porträt)

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