Das Zukunftsmagazin von TÜV SÜD
Foto Züge auf Gleisen

DER EUROPÄISCHE TRAUM

TEXT JULIUS FIEDLER
FOTO ILKAY KARAKURT

—— Die Bahn transportiert Güter schnell, verlässlich und klimafreundlich durch ganz Europa. Doch noch hemmen unterschiedliche Standards und Lücken im Netz den grenzüberschreitenden Schienenverkehr. Das soll sich nun ändern.

Nördlich von Basel muss Markus Palm erst einmal halten. Er sitzt am Steuerpult seiner Lokomotive. Die rot lackierte, 19 Meter lange, 84 Tonnen schwere und 7 600 PS starke Zugmaschine steht – das Signal neben dem Gleis zeigt Rot. Es ist ein regnerischer Donnerstagnachmittag nahe der deutsch-schweizerischen Grenze. An der Lokomotive des Güterverkehrsunternehmens RheinCargo hängen 20 Kesselwagen mit Mineralöl. Noch heute Nacht müssen sie in ein Tanklager eines großen Konzerns und weiter zu einem Chemieunternehmen kommen, wo ihre Füllung dringend gebraucht wird.

Doch Palm steht, und das nicht zum ersten Mal. „Diese Stelle kenne ich“, sagt der Lokführer. „Hier muss man öfter schnellere Züge wie einen ICE vorbeilassen. Da rufe ich nicht direkt den Fahrdienstleiter an und frage, was los ist und wann ich weiterfahren kann“, sagt er und wartet. Nach weiteren zehn Minuten wundert er sich doch, tippt neben seinem Zugfunk-Bildschirm auf die Taste, mit der er das örtliche Stellwerk erreicht, und greift zum schwarzen Telefonhörer. Und tatsächlich: Einen Personenzug muss Palm noch vorbeilassen, bevor er aus dem Bahnhofsbereich auf die Strecke kann. Erst als dieser auf einem Gleis neben ihm vorbeigerauscht ist, kann er den kleinen schwarzen Steuerhebel in seiner linken Hand wieder nach vorne schieben und die Lok in Bewegung setzen.

Es sind nur 20 Minuten. 20 Minuten aber, die sinnbildlich dafür stehen, wo es mit dem europäischen Traum noch hängt, wo es noch Verbesserungsbedarf im europäischen Bahnverkehr gibt – und wo die EU aktuell Milliarden investiert, um die Schiene für noch mehr Transporte in Europa zu einer klimafreundlichen Alternative zu machen. Denn laut Umweltbundesamt verursacht ein Güterzug pro Tonnenkilometer sieben Mal weniger Treibhausgase als ein Lkw.

Foto Steuerung
Foto Lokführer

So schön, so gut. Nur hat das europäische Netz ein Problem: Es ist zwar weit verzweigt, aber an vielen Stellen zu schlecht ausgebaut, um alle Güter- und Personenzüge aufzunehmen. Das führt im Alltag zu Stress, Verspätungen und dazu, dass die Bahn ihr großes Potenzial gar nicht ausnutzen kann. Dabei wird das dringend gebraucht: Die EU will aus Klimaschutzgründen den Schwerlastverkehr von der Straße auf die Schiene bringen und den Bahngüterverkehr bis 2050 im Vergleich zu 2015 verdoppeln. Heute leistet der europäische Schienengüterverkehr jährlich rund 400 Milliarden Tonnenkilo­meter, etwa 20 Prozent des gesamten Aufkommens. Europaweit müssen mehr Züge aufs Schienennetz, Züge müssen länger werden und die Schieneninfra­struktur muss mitwachsen. Und es braucht eine Harmonisierung der verschiedenen Standards.

Die EU hat dafür die Idee des „Transeuropäischen Verkehrsnetzes“, abgekürzt TEN-V, entwickelt. Dafür legt sie fest, welche Infrastruktur in Europa benötigt wird, um den Kontinent für Transport und Handel optimal zu vernetzen. Gleichzeitig setzt sie ein Förderprogramm für EU-Mittel auf, die „Connecting Europe Facility“. Klappt alles, was sich Brüssel vorstellt, könnte im Jahr 2050 ein Traum wahr werden, der an den europäischen erinnert: keine Grenze, keine Barrieren, ein Kontinent.

Foto Gleisbett
Foto Gleisbett
Foto Container
Foto Melder
Detailfoto Weiche
Foto Güterzug
Abfahrt vorbereiten Bevor ein Güterzug abfährt, müssen Lokführer wie Markus Palm noch einmal alles überprüfen. Der Weg durchs Gleisbett zu ihrem Zug gehört zum Arbeitsalltag. Ist alles in Ordnung, drückt Palm den schwarzen Hebel nach vorn: Los geht es.
Foto Güterzüge
Foto Lokführer
ABSTIMMUNG GEFORDERT Güterzüge müssen immer wieder halten, um beispielsweise Schnellzüge vorbeizulassen. Wann es weitergeht, erfährt ein Lokführer am schnellsten per Telefon.

Der Transport über die Schiene gewinnt für Unternehmen an Bedeutung

Wie wichtig der Grenzverkehr ist, das zeigt sich schon an Lokführer Palm. An diesem regnerischen Tag im Spätsommer ist er mit seinem Güterzug auf einer der Hauptschlagadern des Schienenfrachtverkehrs unterwegs. Die Rheintalbahn zwischen Basel und Karlsruhe ist Teil des „Rhein-Alpen-Korridors“. Er führt von den niederländischen und belgischen Hafenstädten Rotterdam, Antwerpen und Brügge durch die Wirtschaftsregionen am Rhein über Basel durch die Schweiz bis nach Genua an die italienische Mittelmeerküste. Was per Schiff an den großen Häfen im Westen und Süden des Kontinents landet, kommt dort auf die Schiene und wird nach Europa verteilt.

Insbesondere für Massengüter wie Holz, Baustoffe, Schotter, Chemikalien oder Energieträger ist der Zug die beste Wahl. Von den rund 5 000 Güterzügen, die sich täglich auf dem deutschen Schienennetz tummeln, überquert rund die Hälfte mindestens eine nationalstaatliche Grenze und spart dabei Emissionen, etwa gegenüber dem Straßenverkehr. Ein Güterzug kann bis zu 52 Lkw ersetzen – und entsprechend viel CO2 einsparen. Die EU hat elf Güterverkehrskorridore festgelegt, also Strecken, die für den europaweiten Transport von Gütern besonders wichtig sind. Auf fast jedem braucht es noch Lückenschlüsse, um ein Schienennetz zu bauen, auf dem europäische Unternehmen guten Gewissens und sicher ihre Produkte verladen können.

Um so eine Sicherheit bestmöglich zu ermöglichen, ist es unerlässlich, die Komponenten und auch die Infrastruktur zu verifizieren und zu überprüfen. Einer, der davon viel zu erzählen weiß, ist Gregor Supp von TÜV SÜD. „In unserem Bereich Rail zertifizieren wir einzelne Komponenten wie Schienen, Schwellen oder auch die Schienenbefestigung. Darüber hinaus prüfen wir als Benannte oder Bestimmte Stelle“, sagt Supp. Denn für die meisten Anwendungen gibt es internationale Normen, die eingehalten werden müssen. Supp und sein Team prüfen genau, ob die Komponenten, die auf den Trassen gebraucht werden, diesen Normen entsprechen. Im zweiten und dritten Schritt nehmen sie aber auch die theoretischen Anforderungspläne
unter die Lupe. Für Supp wichtig ist im Anschluss auch der Praxisteil: „Wir sind natürlich viel vor Ort, um alles im konkreten Einsatz zu validieren“, sagt er. „Im Gleisbett sind meist mehrere Experten von uns einige Tage unterwegs und schauen sich alles genau an“, erklärt Supp. Das beginnt bei der Beschaffenheit der Drainage, geht über den Zustand des Kiesbetts bis hin zur Überprüfung, ob auch alle Komponenten das nötige Zertifikat haben. „Es ist wichtig, dass wir genau arbeiten, denn daran hängt die Sicherheit der Infrastruktur“, erklärt Supp die Arbeit seines elfköpfigen Teams. Insgesamt gibt es mehr als 400 fachübergreifende Experten bei TÜV SÜD, die Bahnanwendungen in jeder erdenklichen Facette bis hin zum Sicherungssystem und in jedem Abschnitt des Lebenszyklus verifizieren, zertifizieren und prüfen.

Illustration Rhein-Alpen-Korridor
DIE HAUPTSCHLAGADER EUROPAS Der Rhein-Alpen-Korridor ist eine der wichtigsten Güterzugstrecken Europas. Er verläuft von Italien bis in die Niederlande. Aktuell wird die Strecke ausgebaut.

Die Europäische Kommission will Engstellen beseitigen – und investiert Milliarden

Es ist solche Arbeit, die Menschen wie Markus Palm zugutekommt. An ihm ziehen nun im rechten Seitenfenster seiner Lok schon seit Minuten planierte Flächen vorbei, immer wieder auch Bauwagen und Kiesberge. Auch die Strecke, die Markus Palm fährt, ist eine solche Engstelle, an denen grenzüberschreitende Fahrten bislang oft aufgehalten werden und teilweise stundenlange Verspätungen aufbauen. „Hier passiert jetzt aber was, das sieht man in letzter Zeit schon deutlich“, sagt der erfahrene Lokführer. Südlich der Stadt Müllheim im Markgräflerland werden neben der bestehenden Trasse aktuell schon zwei neue Gleise gebaut. Bis 2035 soll die Strecke auf der gesamten Länge zwischen Basel und Karlsruhe ein drittes und ein viertes Gleis bekommen, teilweise auch für Hochgeschwindigkeitsverkehr mit bis zu 250 km/h ausgelegt. Der langsame Güter- und der schnellere Personenverkehr können dann unterschiedliche Gleise nutzen. Die Kunden der Güterverkehrsunternehmen erhalten ihre Lieferung verlässlicher, und auch Reisende kommen schneller an ihr Ziel. Zu dem TEN-V-Projekt steuert die EU für den Ausbau bis zu 311 Millionen Euro bei.

Die EU muss einheitliche ­Standards schaffen

Die EU zielt mit ihren Initiativen aber nicht nur auf den gezielten Ausbau der Schienenweg-Infrastruktur in Europa ab. Das Netz soll auch harmonisiert werden, damit grenzüberschreitende Fahrten vereinfacht werden. Wegen seiner besonderen internationalen Bedeutung ist das vor allem für den Güterverkehr wichtig. Bislang sind die Schienennetze der einzelnen Mitgliedstaaten stark national ausgerichtet, Beispiel: Spurbreite. In Spanien und Portugal beträgt der Abstand zwischen den Schienen 1 668 Millimeter. Er ist damit um einiges breiter als die sonst in Europa verwendete Normalspur von 1 435 Millimetern. Grenz­überschreitende Züge müssen hier umgespurt, das heißt auf Fahrgestelle mit der passenden Spurweite umgelagert werden. Unterschiede gibt es aber auch bei den Bahnstromsystemen: Die Spannung in der Oberleitung, die Elektrolokomotiven mit Fahrstrom versorgt, unterscheidet sich von Land zu Land. In Deutschland liegen dort beispielsweise 15 Kilovolt an, in Frankreich 25 Kilovolt. Größtenteils inkompatibel sind auch die Zugsicherungssysteme in den europäischen Ländern, die für die Sicherheit des Bahnbetriebs unverzichtbar sind: Sie können unter anderem feststellen, ob ein Zug an einem Halt zeigenden Signal angehalten hat, und – falls nicht – eine Zwangsbremsung auslösen, damit der Zug nicht auf einen vorausfahrenden Zug auffährt. In Deutschland werden die Systeme Indusi, LZB und PZB verwendet, in Frankreich Crocodile und in den Niederlanden ATB.

Für den Umgang mit diesen Unterschieden haben Schienenfahrzeughersteller und Eisenbahnhersteller teils komplizierte Lösungen gefunden: Bei Personen- und Güterzügen kommt es vor, dass an den Grenzen die Loks gewechselt werden. Es gibt aber auch die Mö­glichkeit, Lokomotiven und Triebzüge mit unterschiedlichen „Länderpaketen“ auszustatten. Auf Dauer ist das zu kompliziert. Um die Systeme Stück für Stück besser zu vernetzen, hat die EU „Technische Spezifikationen für die Interoperabilität“ eingeführt, kurz TSI. Solche gibt es unter anderem für die Bereiche Infrastruktur, Fahrzeuge, Schienenlärm und Barrierefreiheit. Alle Unterschiede können sie nicht aufheben: In der TSI Energie etwa sind weiterhin vier Stromsysteme beschrieben, die nebeneinander existieren. Die Regelungen sollen aber dafür sorgen, weitere nationale Eigenheiten einzuhegen und so gut es geht Standardisierung zu schaffen.

Foto schwarze Box
Foto Positionsmelder
POSITIONSMELDER Kleine Box, große Wirkung: Das ETCS-System ermöglicht es, Strecken besser auszulasten – ohne Einbußen bei der Sicherheit.

Sicherheitstechnik ist entscheidend

Palm ist mittlerweile gemächlich unterwegs, keine großen Staus. Doch während seiner Fahrt auf der Ausbaustrecke zeigt Palm immer mal wieder auf gelbe schuhkartongroße Boxen. Die liegen alle paar Meter in der Mitte des Gleises. „Das sind Euro­balisen, ein Teil des ETCS-Systems, das hier in Betrieb gehen soll, wenn die Strecke fertig ausgebaut ist“, erklärt er. ETCS, kurz für European Train Control System, ist das größte Harmonisierungsprojekt auf dem europäischen Netz: Die unterschiedlichen nationalen Zugleit- und -sicherungssysteme sollen durch einen europäischen Standard ersetzt werden, bei dem auch die Schweiz dabei ist. Bis zu 30 Prozent mehr Kapazität könnte das neue System bringen, ohne dass ein Meter neue Schiene gebaut wird, hoffen Bahnindustrie und Politik. Funktionieren soll das über eine bessere Kommunikation zwischen Strecke und Fahrzeug. In konventionellen Systemen sind die Strecken in Blöcke eingeteilt, in denen sich immer nur ein Zug befinden darf. Während der Block besetzt ist, darf kein weiterer Zug hineinfahren, obwohl ausreichend Platz wäre. Mit ETCS soll der Zug seine Position ständig melden und die Bahnen können in engerem Abstand als bislang hintereinanderfahren. Auch das will die EU bis 2050 umsetzen.

Zwar haben bisher erst rund 20 Prozent der 42 000 Schienenfahrzeuge in Europa den neuen Standard. Doch bis 2030 soll bereits die Hälfte der Fahrzeuge auf den Kernstrecken die ETCS-On-Board-Units haben. Ein Knackpunkt ist die Finanzierung, die gern mal ein paar Hunderttausend Euro kostet. Für Neufahrzeuge, die auf den grenz­überschreitenden Netzen unterwegs sind, ist die Ausrüstung mit ETCS Pflicht. Für Altfahrzeuge will die EU einen Anreiz zur Umrüstung schaffen.

Auch Markus Palms Lok ist noch nicht für ETCS vorgerüstet, soll es aber werden. Er ist heute relativ gut vorangekommen. Um etwa 0:30 Uhr wird er bei Frankfurt ankommen. Dort ist seine Schicht vorbei. Am nächsten Tag wird er wieder einen Güterzug besteigen und ihn über einen Kontinent lenken, der gerade versucht, sich immer besser zu vernetzen.

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