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WARUM SIND WIR NEUGIERIG?

—— Ohne Neugier bleiben wir stehen, sagt der Wirtschaftspsychologe und Linguist Carl Naughton. Im Gespräch verrät er, warum Neugier evolutionär wichtig ist, wieso sie trotzdem ein schlechtes Image hat und weshalb sie wie eine Schnitzeljagd funktioniert.

Braunes Auge blickt durch ein Schlüsselloch.

TEXT THOMAS SCHMELZER

Herr Naughton, was ist Neugier?
———— Ich würde sie als eine Mischung aus Veranlagung und Erfahrungen beschreiben. Wie neugierig eine Person ist, hängt davon ab, in welchem Umfeld sie aufgewachsen ist. Zwei Menschen sind also nie gleich neugierig.
Warum sind wir überhaupt neugierig?
———— Neugier ist evolutionär notwendig und angeboren. Wer sein Umfeld nicht untersucht, kann nicht gedeihen. Gerade in jungen Jahren ist das Entdecken entscheidend dafür, die Welt als verstehbar und beherrschbar zu erleben. Im Wesentlichen gibt es fünf Dimensionen der intellektuellen Neugier: Entdeckerfreude, Antrieb aus Wissensmangel, soziale Neugier, Nervenkitzel und Anspannungstoleranz.
Moment mal, was bedeutet Anspannungstoleranz?
———— Die erleben wir, wenn wir auf etwas Neues, Unbekanntes stoßen. Das bringt Unruhe ins System, es stört unser Gleichgewicht. Wenn die Anspannungstoleranz fehlt, ist man sehr vorsichtig und probiert wenig aus. Manche Menschen laufen beispielsweise einfach darauf los, wenn sie in eine neue Stadt kommen. Auch auf die Gefahr hin, sich zu verirren oder in Viertel zu geraten, die weniger behaglich sind. Sie vertrauen darauf, dass sie sich schon zurechtfinden werden. Solche Menschen besitzen eine große Anspannungstoleranz. Menschen mit weniger Anspannungstoleranz werden das Explorative eher meiden und lieber mit einer geführten Gruppe unterwegs sein.
Neugierige Menschen sind also entdeckungsfreudiger?
———— Das ist nur ein Aspekt. Neugier hängt auch mit einem erfüllten Leben zusammen: Neugierige Menschen haben zum Beispiel mehr positive Sozialkontakte, lernen leichter und leben sogar länger. Eine Langzeitstudie mit Probanden im Alter von 60 und 86 Jahren hat etwa gezeigt, dass neugierigere Menschen noch signifikant häufiger am Leben waren, als die Studie endete. Auch in der Ausbildung ist Neugier nachweislich wichtiger als ein hoher IQ allein. Und im Job ist Neugier relevant für Veränderungsbereitschaft, Innovation, Kreativität und Lernfähigkeit.
Sind neugierige Menschen somit automatisch erfolgreicher?
———— Sie sind auf jeden Fall kreativer. Allerdings nur dann, wenn sie nicht in einen Zielkonflikt geraten und zugleich produktiv sein müssen. Beides zusammen funktioniert nicht. Manche Firmen haben das erkannt und geben ihren Mitarbeitern freie Tage, an denen sie nur über kreative Lösungen oder neue Formate nachdenken können. So steigern sie die Innovationskraft im Unternehmen.
Reicht Neugier allein – oder wie werden aus den Ideen der Neugierigen Produkte?
———— Neugier ist die Voraussetzung für Ideen­reichtum. Ob jemand dann in der Lage ist, seine Ideen auch umzusetzen und daraus einen Prototyp oder ein fertiges Produkt zu bauen, hängt wiederum vom psychologischen Kapital ab, das in vier Dimensionen unterteilt ist: Zuversicht, Selbstwirksamkeit, Widerstandskraft und optimistischer Realismus. Ohne den Glauben an die eigenen Fertigkeiten, den Willen, bei Fehlversuchen weiterzumachen, die Fähigkeit, Alternativen zu finden, bekommt man eine Idee nicht zum Fliegen. Nehmen Sie den jungen Krebs­forscher Jack Andraka. Er hatte ­einen vielversprechenden Test für Bauchspeicheldrüsenkrebs entwickelt. Trotzdem lehnten 199 Labore seinen Prototyp ab. Erst bei Labor 200, das war die Johns-Hopkins-Universität, hatte er Erfolg. Später zeigte sich, dass Andrakas Entwicklung 100 Mal effektiver und wesentlich günstiger war als herkömmliche Tests.
Carl Naughton im grauen Jacket, in die Kamera blickend.

„Neugier ist die Voraussetzung für Ideenreichtum.“

Dr. Carl Naughton
Neugier zusammen mit psychologischem Kapital ist also das Erfolgsgeheimnis?
———— Zu weiten Teilen ja. Wichtig ist auch Gewissenhaftigkeit. Aus der Neugierforschung wissen wir in dieser Hinsicht, dass Neugierige meist gewissenhafter sind als andere. Das liegt daran, dass sie Dinge wirklich durchdringen wollen. ­Gewissenhaftigkeit wiederum ist ein wichtiger Marker für gute Schulnoten und eine erfolgreiche Karriere.
Hat die Neugier auch etwas mit unserem Alter zu tun?
———— Nein. Jeder kann zu jedem Zeitpunkt in seinem Leben unendlich neugierig sein. In ganz jungen Jahren kommen wir allerdings überhaupt nicht um sie herum. Der Zweck der Neugier besteht in dieser Lebensphase darin, der Welt einen Sinn zu geben. In der oralen Phase finden Kleinkinder zum Beispiel heraus, wie Dinge schmecken und welche Formen und Konsistenz sie haben. Mit fortschreitendem Alter gibt es dann immer weniger Dinge, die völlig neu sind oder uns überraschen. Dann ist Neugier eine Mischung aus Persönlichkeit und der bewussten Entscheidung, Neues entdecken zu wollen.
Also nimmt Neugier doch mit dem Alter ab.
———— Manche Menschen sind einfach damit zufrieden, nicht zu wissen, wie oder warum etwas funktioniert. Oder sie glauben, bereits herausgefunden zu haben, was für sie relevant ist. Neugier ist eine Persönlichkeitseigenschaft. Manche haben mehr davon, andere weniger. Natürlich gibt es auch Neugierkiller, die kreative Prozesse lahmlegen. Vielfaltsamnesie zum Beispiel. Die entsteht bei Routinen, in denen sich dieselbe Handlung immer wieder wiederholt. Das kann im Job vorkommen oder in der Partnerschaft.
Sie empfehlen also, den Partner häufiger zu wechseln?
———— Das ist nicht nötig. Es reicht schon aus, neue Facetten am Partner kennenzulernen. Wichtig ist, einander Fragen zu stellen. Weniger bekannte Erlebnisse oder Empfindungen des Partners zu erfahren. Oder sich gemeinsam in neue Kontexte zu begeben.
Was passiert in unserem Gehirn, wenn wir neugierig sind?
———— Neugierige zeigen vor allem eine erhöhte Aktivität in den Caudatus-Regionen des Gehirns. Das sind Areale, die in der Verarbeitung „erwarteter Belohnung“ involviert sind. Forscher des California Institute of Technology haben Neugier einmal sichtbar gemacht, indem sie Probanden in einem MRT-Scanner Quizaufgaben im Stil von Trivial Pursuit stellten. Bei dem Spiel glaubt man häufig, eine Antwort zu kennen, ist sich aber nicht ganz sicher. Nach dem Lesen jeder Frage wurden die Teilnehmer gebeten, für sich die Antwort zu raten und gleichzeitig ihre Neugier nach der richtigen Antwort einzuschätzen. Dann gab es die Frage erneut zu sehen, diesmal inklusive der Antwort. Die Caudatus-Regionen waren immer dann am aktivsten, wenn die Probanden die Antwort nicht sicher wussten: Neugier aus Wissensmangel.
Waren wir Homo sapiens schon immer neugierig?
———— Ja. Neugier brachte uns dazu, immer smartere Lösungen zu entwickeln. Zum Beispiel Speere mit einer optimalen Gewichtsverteilung, die sich von heutigen kaum unterscheiden. Oder das Feuer nicht nur zu entfachen, sondern auch zu beherrschen. Gemeinsam zu jagen, um größere Beute zu erlegen. Neugier ist wie eine Schnitzeljagd nach der besseren Lösung.
Trotzdem hat die Neugier nicht den besten Ruf.
———— Sprüche wie „Sei nicht so neugierig!“ kennen wir alle. Diese Art der Abwertung von Neugier ist seit der Antike bekannt. Ikarus wollte etwa ausprobieren, wie nah er an die Sonne herankommt, und natürlich stürzte er dabei ab. Als ­Aktaion bei der Jagd aus Versehen die nackte ­Diana beim Bad im See überraschte und genauer hinschaute, wurde er zur Strafe in einen Hirsch verwandelt und von seinen Jagdhunden zerfleischt. Neugier galt lange Zeit nicht als erstrebenswerter Zustand der angeregten Aufmerksamkeit, sondern als Laxheit oder Ablenkung. In den aristotelischen Schriften ist „thauma“, das Wundern über das eigene Nichtwissen, eine notwendige Erkenntnis, Neugier hingegen gilt als „periergia“, als moralisch fragwürdig, da in ihr der Wunsch steckt, Dinge zu erfahren, die einen nichts angehen. Der Abt Bernhard von Clairvaux sah in der Neugier den Anfang aller Sünde. Das schlechte Image der Neugier verbesserte sich in Europa erst später. John Lockes Schrift „Some Thoughts Concerning Education“ von 1693 gilt dabei als Meilenstein im Rebranding der Neugier. Locke zeigt darin auf, welch hervorragendes Instrument die Natur dem Menschen mit der Neugier gegeben hat.
Zu viel Neugier kann aber auch schaden.
———— Das könnte auf das Thrill Seeking, also die Suche nach dem Nervenkitzel, zutreffen. Der Großteil der aktuellen Forschung widmet sich allerdings der Frage, wie uns intellektuelle Neugier hilft, in einem unvorhersehbaren, stark veränderlichen Alltag zurechtzukommen. Diese Neugier sollten wir nähren.
Und was würde passieren, wenn plötzlich niemand mehr neugierig wäre?
———— Nicht mehr viel. Keiner suchte mehr nach Impfstoffen, keiner interessierte sich mehr für den anderen, keiner nutzte mehr Medien. Neugier hält uns am Laufen, sozial, ökonomisch und generell als Spezies.

FOTOS:

Carl Naughton (Porträt); Getty Images/Jens Schwarz/EyeEm (Schlüsselloch)

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