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„UNSICHTBARER DIVERSITY GEHÖR VERSCHAFFEN“

—— Die Schwedin Sofia Falk gilt als eine der hartnäckigsten Vorkämpferinnen für Vielfalt und Inklusion. Warum sie trotzdem nichts von teuren Diversity-Programmen oder seitenlangen Leitlinien hält – und was sie Unternehmen stattdessen in Sachen Vielfalt rät.

Collage aus vielen unterschiedlichen Gesichtern auf beigem Untergrund.

TEXT FELIX ENZIAN
ILLUSTRATION KLAWE RZECZY

Frau Falk, Sie treten seit mehr als 15 Jahren für mehr Vielfalt ein. Wann haben Sie das erste Mal bemerkt, dass es da ein Problem in unseren Gesell­schaften geben könnte?
———— Ich bin als Kind schwed­ischer Eltern in Kolum­bien aufgew­achsen und habe in verschie­denen Ländern studiert. Das Gefühl, nicht zur Mehr­heit zu gehören, kenne ich also. Wirklich die Augen ge­öffnet hat mir dann meine Zeit beim Mili­tär in Schwe­den. Ich war 20 und in meiner Ein­heit eine von drei Frauen zwischen un­gefähr 60 Männern. Obwohl ich im Halb­marathon, am Schieß­stand oder an der Militär­akademie besser war als viele Kame­raden, wurden meine Leist­ungen nicht wirk­lich aner­kannt. Meine Erf­olge galten statt­dessen als bloße Aus­nahme oder als Glücks­fall – einfach, weil ich eine Frau war. Im persön­lichen Umgang waren meine Kame­raden zwar freundlich zu mir, aber mein Status als Außen­seiterin hat mich belastet. Dieser Druck hat sogar dazu geführt, dass meine Leist­ungen schlechter wurden.
Nach dem Dienst beim Militär sind Sie dann in die Wirtschaft gegangen. Warum?
———— Das hatte mit meiner Arbeit beim Nachrichtendienst zu tun. Ich wurde dort für eine Mission im Kosovo ausgewählt, und zwar, weil ich gut war und weil ich eine Frau bin. Dafür muss man wissen, dass Agenten Kontakte und Vertrauensbeziehungen zu Personen aus ganz unterschiedlichen Kreisen der Bevölkerung aufbauen, um Informationen zu gewinnen. Und das gelingt nur mit einem Team, das aus ganz unterschiedlichen Menschen besteht. Der Nachrichtendienst hatte verstanden, warum Diversity im Team wichtig ist: nicht etwa aus Gründen der Fairness und Gleichberechtigung – das ist nur ein positiver Nebeneffekt –, sondern weil sie maßgeblich für den operativen Erfolg ist. Für mich war klar, dass ich diese Erkenntnis in die Wirtschaft tragen will, denn auch dort führt eine Vielfalt an Perspektiven natürlich zu mehr Erfolg und mehr Innovation.
Was hat sich seither in puncto Diversity in der Wirtschaft verbessert?
———— Leider gar nicht so viel, obwohl Unternehmen inzwischen wirklich ziemlich viel Zeit und Geld in das Thema stecken. Ich nenne das „Diversity-Paradox“. Zahlreiche Firmen verkünden Leitlinien zu Diversity, setzen aufwendige Programme um, schaffen Netzwerke für Minderheiten, führen Quotenregelungen ein und wenden Prozesse zur Anonymisierung im Recruiting an, aber die erwarteten positiven Ergebnisse bleiben oft trotzdem aus. Der Grund ist, dass Diversity immer noch missverstanden wird. Viele Unternehmen glauben, sie sind auf dem richtigen Weg, wenn sie prozentuale Ziele für den Anteil von Frauen in der Vorstandsetage erfüllen oder sich bemühen, mehr Ethnien in ihre Organisation zu bekommen. Doch leider schafft Vielfalt um der Vielfalt willen keinen Wert. Was Wert schafft, ist die Einbeziehung dieser Vielfalt. Inklusion ist der Schlüssel.
Schwarzweiß-Portrait von Sofia Falk, die in die Kamera lacht.

„Eine Vielfalt an Perspektiven führt natürlich zu mehr Erfolg und Innovation.“

Sofia Falk
Ist es nicht schon ein großer Fortschritt, wenn mehr Frauen und Menschen unterschiedlicher Herkunft in Unternehmen eine wichtige Rolle spielen?
———— Das ist ein Fortschritt, klar, aber er allein reicht nicht aus. In vielen modern geführten Unternehmen, sowohl bei den großen Playern als auch in kleinen Start-ups, gibt es heute sehr vielfältig erscheinende und international besetzte Teams. Aber trotz der scheinbaren Unterschiede sind das oft Menschen, die von denselben Hochschulen kommen und ähnliche Berufs- und Lebenserfahrungen gemacht haben. Neben Faktoren der sichtbaren Diversity wie Geschlecht, Alter, Hautfarbe und körperliche Merkmale müssen wir aber auch die unsichtbare Diversity mitdenken. Die umfasst auch weniger griffige Faktoren wie soziokulturelle Prägungen, Religion, Wertvorstellungen, die sexuelle Orientierung, persönliche Interessen und noch viel feinere Unterschiede. Zum Beispiel ob jemand eher extrovertiert oder introvertiert, intuitiv oder analytisch, detailorientiert oder pragmatisch ist.
Was haben solche Dinge mit der Performance von Unternehmen zu tun?
———— All diese Eigenschaften prägen die Art und Weise, wie Menschen ihre Umwelt wahrnehmen, Informationen filtern, Probleme lösen und letztlich Entscheidungen treffen. Und aus genau dieser unsichtbaren Vielfalt kann eine große Stärke erwachsen, wenn sie sich produktiv und kreativ entfalten darf. Das gelingt aber nicht durch hochtrabende Leitlinien, sondern durch eine Kultur, in der die vielfältigen Perspektiven von Kollegen, Partnern, Kunden und anderen Stakeholdern wirklich willkommen sind und bewusst gefördert werden. Genau darum geht es bei Inklusion.
Führt das nicht den Gedanken der Diversity ad absurdum? Irgendwann könnte dann ein Vorstand, der nur aus weißen Männern besteht, den Status quo verteidigen mit dem Argument: Wir wirken zwar äußerlich sehr ähnlich, aber wir sind ganz unterschiedliche Charaktere.
———— So ist es natürlich nicht gemeint. Auch sichtbare Diversity muss weiterhin gefördert werden – gerade in den Führungsebenen. Sie definiert, was als normal gilt, und sendet ein sehr wichtiges Signal nach außen: In unserem Unternehmen sind alle Menschen willkommen. Das reicht aber wie gesagt nicht. Die Kultur eines Unternehmens wird im Alltag vor allem von den Akteuren geprägt, die dort die Mehrheit stellen. Sie bestimmen die Art und Weise, wie gedacht, gehandelt und kommuniziert wird. Für Newcomer und Außenseiter erfordert es in so einem Umfeld viel Mut und Selbstvertrauen, ihre Perspektiven einzubringen. Und dadurch kann ein großes Potenzial an innovativen Ideen verloren gehen. Um das zu verhindern, müssen wirtschaftliche Organisationen ihre Denkweisen neu sortieren, ihre Arbeitsprozesse neu verdrahten und so der unsichtbaren Diversity Gehör verschaffen.

„Seid nicht zu ehrgeizig mit dem Thema Diversity! Veränderung braucht Zeit.“

Welche Methoden empfehlen Sie den Unternehmen dafür?
———— Mein Ansatz beruht auf dem Behavioural Design. Die Grundidee ist einfach: Gestalten Sie eine Situation, einen Kontext oder eine Umgebung so, dass es Menschen oder Gruppen möglichst leichtfällt, ein gewünschtes Verhalten zu zeigen. Konkreter: Sorgen Sie dafür, Menschen mit anderen Perspektiven in Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Das sind oft Kleinigkeiten und simple Routinen. Teams können Newcomer oder unerfahrene Mitglieder in Meetings zum Beispiel als Erste sprechen lassen. Sie können auch einen „Fürsprecher des Teufels“ ernennen, der etablierte Standpunkte qua Funktion radikal infrage stellt. Oder Sie bitten „Wildcards“ – Kolleginnen oder Kollegen aus anderen Bereichen – um ihre Meinung. Eine ziemlich effektive Übung ist auch, einen leeren Stuhl im Raum zu platzieren und die Frage zu stellen: Was für eine Person sollte hier sitzen, deren Perspektive uns im aktuellen Projekt fehlt? Ein solche Person wird dann zum nächsten Meeting eingeladen.

Kürzer werden Meetings mit solchen Methoden allerdings nicht.
———— Das stimmt. Inklusion verlangsamt Prozesse, und gerade in der Wirtschaft fühlt sich das erst einmal kontraintuitiv an. Unser Gehirn ist darauf programmiert, Entscheidungen instinktiv und schnell zu treffen. In der Regel verlassen wir uns auf vertraute Konzepte und vermeiden es, bewährte Denkmuster infrage zu stellen. Bei vielen alltäglichen Entscheidungen ist dieses Verhalten auch durchaus sinnvoll und effizient. Doch gerade in den kritischen Phasen eines Projekts ist es essenziell, innezuhalten und neue Perspektiven einzubeziehen, um bessere und innovativere Entscheidungen zu treffen. Solche Phasen sollten bewusst definiert werden, um Diversity gezielt zu nutzen. Womöglich muss ein Unternehmen dafür gar nicht die Personalstruktur ändern, sondern es reicht aus, die unsichtbare Diversität in den eigenen Reihen zum Vorschein zu bringen oder sich punktuell Unterstützung von externen Partnern zu holen.
Lässt sich der Wert dieser Diversity beziffern?
———— Es gibt inzwischen viele Studien, die belegen, dass mehr Diversität die Innovationsfähigkeit, die Anpassungsfähigkeit und die Rentabilität wirtschaftlicher Organisationen stärkt. Ebenso aussagekräftig sind die Erfahrungen von Unternehmen, die mit Projekten schmerzhaft gescheitert sind, gerade weil sie es versäumt haben, Diversität einzubeziehen.
Zum Beispiel?
———— Ein europäischer Automobilkonzern wollte ein Luxusfahrzeug in außereuropäischen Ländern vermarkten. Der Wagen war allerdings von einem rein europäischen Designteam gestaltet worden, das sich bei der Luxusausstattung auf den Fahrerbereich konzentrierte. Was das Team nicht bedacht hatte: Auf anderen Kontinenten gilt es noch immer als Statussymbol, sich von einem Chauffeur fahren zu lassen. Der Eigentümer sitzt also hinten, da, wo kein Luxus vorgesehen war. Deswegen kam das Auto nicht an und der Launch wurde abgebrochen. Bei einem anderen Beispiel wollte ein globales Einzelhandelsunternehmen mit Hauptsitz in Schweden beim jährlichen Mitarbeiterevent zum Paintball-Match einladen. Das Planungsteam hatte dabei nicht auf dem Schirm, dass die Einladung für Mitarbeiter aus Israel und Palästina ziemlich befremdlich wirken musste. So bewirkte die gut gemeinte Veranstaltung, die ein positives Arbeitsklima fördern sollte, das genaue Gegenteil. Ich kenne unzählige solcher Geschichten, die allein wegen mangelnder Diversität und fehlender Inklusion entstanden sind.
Was raten Sie Unternehmen, um solche Fehler zu vermeiden?
———— Seid nicht zu ehrgeizig mit dem Thema Diversity. Ihr braucht keine aufwendigen Programme und auch keine Managementstrategien. Viel wichtiger ist, dass Diversity und Inklusion in Teams gelebt werden. Erwartet allerdings auch davon keine schnellen, sofort spürbaren Erfolge. Veränderung braucht Zeit. Arbeitskulturen, die im Laufe von Jahrzehnten gewachsen sind, lassen sich nicht in ein paar Monaten nachhaltig verändern. Der Weg zu mehr Diversität ist ein Marathon und kein Sprint.

Sie haben einmal Pippi Lang­strumpf als Ihr Vorbild bezeichnet. Sind Sie immer noch ein Fan?
———— Pippi war mein Idol als Kind. Sie hat Konventionen und Machtstrukturen infrage gestellt und sich für andere Menschen starkgemacht. Später sind für mich viele andere hinzugekommen, zum Beispiel der Hacker Neo aus dem Science-Fiction-Film Matrix. Er findet heraus, dass die scheinbare Wirklichkeit nur eine künstliche Simulation ist, und versucht, die Menschheit aus dieser Gefangenschaft zu befreien. Genau das ist mein Ansatz: Wir müssen die traditionellen Muster in Gesellschaft und Wirtschaft nicht so hinnehmen, sondern können sie positiv verändern.

FOTO

Peter Rutherhagen

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