Das Zukunftsmagazin von TÜV SÜD

„JEDER MACHT SEIN DING – UND ALLE DASSELBE“

—— Individualität, Mehrdeutigkeit, Vielfalt: Das sind die Werte, nach denen der moderne Mensch strebt. Unsinn, widerspricht der Kulturwissenschaftler Thomas Bauer – und setzt zur Abrechnung mit dem an, was er Scheinvielfalt nennt.

Portrait von Thomas Bauer, mit Brille, in dunkelblauem Hemd, der einen Apfel vor das rechte Auge hält.

TEXT DAGMAR PUH
FOTO MAX SLOBODDA

Herr Professor Bauer, es heißt, unsere Welt sei so vielfältig und individuell wie nie zuvor. Sie behaupten, das ist ein Trugschluss. Wie kommen Sie darauf?
———— Dass die Vielfalt eher ab- als zunimmt, ist in vielen Bereichen doch ganz offensichtlich. Arten sterben aus, Naturräume und Landschaften gehen verloren, Sprachen und Dialekte verschwinden. Die Verarmung zeigt sich aber auch auf gesellschaftlicher Ebene. In Religion, Kunst oder Politik nimmt die Vielfalt ab, Zwischenpositionen und Uneindeutigkeiten werden immer weniger toleriert und es herrscht ein großer Wunsch nach absoluten Wahrheiten: schwarz oder weiß, richtig oder falsch. Schauen Sie nur auf die Ernährung. Die einen setzen auf veganes Essen aus Ökoanbau, die anderen stopfen Industrieprodukte in sich hinein. Alles, was dazwischenliegt, das gute Mittagessen, das man einfach nur genießt, verschwindet zunehmend. Ex­treme Gegensätze suggerieren heute eine hohe Diversität. De facto handelt es sich aber nur um eine Scheinvielfalt.
Supermarktregale mit unzähligen Sorten Ketchup, Cornflakes oder Chips sprechen eher für das Gegenteil. Inwiefern ist das die Scheinvielfalt?
———— Die Scheinvielfalt reduziert den Menschen auf seine Konsumentenrolle – und alles andere auf Konsumgüter. Auf dem Weg zum Konsumgut geht dabei aber echte Vielfalt verloren. Um nur ein Beispiel zu nennen: Von den rund 20.000 Apfelsorten, die es weltweit gibt, finden Sie im Supermarkt gerade noch fünf oder sechs. Nämlich die, die sich am einfachsten in Massen produzieren und transportieren lassen. Die Reduzierung betrifft aber nicht nur klassische Waren und Güter. Auch große gesellschaftliche Fragen – die Gleichstellung der Geschlechter, der Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung, um nur ein paar Beispiele zu nennen – werden einfach zu Lifestyles verkonsumiert.
Andere Wissenschaftler sehen darin gerade ein Zeichen zunehmender gesellschaftlicher Vielfalt. Der Soziologe Andreas Reckwitz spricht von einer Gesellschaft der Singularitäten, in der alle ihr eigenes Ding machen.
———— Ich sehe da keinerlei Widerspruch. Es stimmt, dass jeder heute sein Ding macht. Ich kann mein Fernsehprogramm selbst zusammenstellen, im Fitnessstudio je nach Laune verschiedenste Sportarten betreiben, individualisierte Produkte kaufen. Aber letztendlich schaut dann eben trotzdem jeder fern oder macht seinen Individualsport. Die Programme und Serien sind dabei alle nach demselben Muster gestrickt. Und Sport bleibt Sport. Alle machen dasselbe, nur nicht gemeinsam.
Und der Treiber hinter dieser Entwicklung soll der Kapitalismus sein?
———— Ja, genau. Grundsätzlich trägt der Mensch sowohl solidarische als auch egoistische Seiten in sich. Die Religion hat diese beiden Pole über Jahrtausende hinweg in der Balance gehalten. Der Kapitalismus aber spricht seit einigen Jahrhunderten nur die egoistische, auf Konkurrenz ausgerichtete Seite des Menschen an, um seine Leistungsbereitschaft zu steigern und immer neue Konsumbedürfnisse zu wecken. Der moderne Mensch horcht nicht mehr in sich hinein, um zu tieferen Erkenntnissen zu gelangen, sondern um ein Konsumbedürfnis zu erkennen. Wir leben heute also keineswegs besonders vielfältige, sondern eher sehr standardisierte Leben.
Waren Menschen noch vor einigen Jahrhunderten nicht viel mehr auf bestimmte Verhaltensweisen und Lebensmodelle festgelegt?
———— Es gab natürlich immer schon Zwänge und feste Rahmenbedingungen, an die es sich zu halten galt. Aber unser Bild von dem, was „früher“ normal war, ist sehr stark von Dingen geprägt, die erst im 19. Jahrhundert, also mit der Industrialisierung, entstanden sind. Davor war das Alltagsleben der Menschen viel weniger standardisiert als heute. Ein Beispiel ist der Schlaf. Dass es heute normal ist, nachts sieben bis acht Stunden am Stück zu schlafen, ist eine Folge der Industrialisierung. Da brauchte man auf einmal Menschen, die sich einem Maschinentakt anpassen, zu festen Zeiten arbeiten und eben auch schlafen. Vorher schlief man in der Regel drei, vier Stunden, stand wieder auf, erledigte ein paar Dinge, besuchte vielleicht Freunde und Verwandte und legte sich dann wieder hin. Und das in einem individuellen Rhythmus. Diese Art von Vielfalt gibt es in unserer Gesellschaft nicht mehr. Heute darf das Leben so vielfältig sein, wie es effizient ist.
Thomas Bauer steht in einer Zimmerecke, an der Wand hängen viele gerahmte Landschaftsbilder. Er blickt in die Ferne.

„Der Hipster in Berlin sieht aus wie der in Kapstadt, die Punkerin in New York wie die in Warschau.“

Professor Thomas Bauer
Nun haben Eindeutigkeit und Effizienz ja auch durchaus Vorteile.
———— Absolut. Und es gibt Bereiche, in denen ich sie sehr zu schätzen weiß. Wenn ich in einen Flieger steige, möchte ich auf jeden Fall, dass der Pilot ganz eindeutig weiß, welcher Knopf im Cockpit was bewirkt. Genauso ist es sehr sinnvoll, dass Technologie nach klaren und nachvollziehbaren Standards geprüft wird. Aber Eindeutigkeit gibt es eben nur für Maschinen. Für Menschen bedeutet das Streben nach Eindeutigkeit und Effizienz, dass sie ihre Lebensziele auf das reduzieren, was zählbar ist. Was wirklich wichtig ist im Leben – Liebe, Freundschaft, Mitleid, Schönheit, Freude, Leid –, ist aber uneindeutig. Jeder Mensch, den man liebt, nervt eben auch manchmal. Wer immer Eindeutigkeit erwartet, macht sich das Leben nur schwer. So einen Lebensstil kann man nicht auf Dauer durchhalten, weil die Vereindeutigung zu innerer und äußerer Entleerung führt. Sie frisst uns selbst auf, macht uns zu Maschinenmenschen. Und sie frisst unseren Planeten auf.
Wenn ein eindeutiges Leben so schlimm ist – warum hat es sich dann trotzdem durchgesetzt?
———— Weil Eindeutigkeit das Leben erst einmal leichter macht. Sich mit Vielfalt auseinanderzusetzen, kostet Zeit und Energie – und senkt die Effizienz. Ich denke, wir alle kennen das Beispiel von Mark Zuckerberg, der immer das gleiche graue T-Shirt trägt, um morgens vor dem Kleiderschrank keine Energie bei der Kleiderwahl zu verschwenden. Die meisten Menschen folgen im Grunde diesem Vorbild und dem Postulat unserer Gesellschaft, effizient zu sein und immer effizienter zu werden, weil es einfacher ist und wertgeschätzt wird. Ob immer mehr Effizienz aber auch wirklich sinnvoll ist, wird meist nicht hinterfragt. So entsteht ein ständiger Beschleunigungsmechanismus um eine Leere herum.
Die Leute laufen heute doch so individuell gekleidet herum wie noch nie!
———— Finden Sie? Ich sehe immer nur Leute in Funktionsklamotten und mit Fitnesstracker auf der Straße. Dass sich jemand schön anzieht, um nach draußen zu gehen, kommt doch kaum noch vor. Sie haben natürlich Recht, dass sich in unserer Gesellschaft jeder ganz nach Geschmack kleiden darf. Aber wer macht das wirklich? Letztendlich gibt es eine große Einheitlichkeit und auch vermeintliche Subkulturen sind weltweit standardisiert. Der Hipster in Berlin sieht aus wie der in Kapstadt, die Punkerin in New York wie die in Warschau. Verkonsumierung von Lifestyles par excellence.
Wie kann man sich dieser zunehmenden Vereindeutigung entziehen?
———— Für den durchschnittlichen Menschen ist das fast unmöglich. Wer sich anders verhält als die Mehrheit, passt nicht in den gesteckten Rahmen und fällt aus der Gesellschaft heraus. Anders leben kann man eigentlich nur, wenn man ohnehin schon außerhalb der Gesellschaft steht und nichts mehr zu verlieren hat. Oder wenn man besonders privilegiert ist. Um mal ein Beispiel aus meinem eigenen Leben zu nennen: Ich gönne mir jeden Tag zwei Stunden Pause, um in meinem Lieblingsrestaurant zu Mittag zu essen und dazu auch mal einen Wein zu trinken. Damit stehe ich heutzutage ganz klar außerhalb der Norm. Und ich komme nur damit durch, weil ich Professor bin.
Glauben Sie, dass sich durch die Pandemie daran etwas ändern wird?
———— Aus meiner Sicht hat der Umgang mit der Pandemie die bestehende Werteordnung nur weiter verfestigt. Das Arbeitsleben lief weitgehend ungestört weiter, aber alles, was mit Kultur, Unterhaltung, Sport und Genuss zu tun hat, wurde gestoppt. Das zeigt sehr deutlich, dass diesen Dingen in unserer Gesellschaft wenig Eigenwert zugemessen wird. Sie werden nur als Erholungsfaktoren von und für die Arbeit gesehen. Dass sich daran durch die Pandemie etwas ändern wird, sehe ich nicht.
Was könnte denn überhaupt eine Veränderung bewirken?
———— Es gibt ja durchaus neue Ideen für Wirtschaft und Gesellschaft. Vielleicht setzt sich da etwas durch. Bis dahin kann man als Einzelner versuchen, kleine Inseln der Uneindeutigkeit in seinem Leben zu etablieren – und zum Beispiel öfter mal ein gutes Mittagessen genießen.

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