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„FRAUEN BRAUCHEN EIN DOPPELTES NETZWERK“

—— Der Soziologe Brian Uzzi erklärt, warum es unsere losen Bekanntschaften sind, die zu Erfolg im Job verhelfen. Und warum Frauen davon weniger profitieren als Männer.

Fragmentierte Person

TEXT LARS-THORBEN NIGGEHOFF

Brian Uzzi war gerade im Urlaub. Entsprechend erholt bittet der Professor der Northwestern University in Chicago zum Gespräch über sein liebstes Forschungsobjekt: die Netzwerktheorie, die soziale Strukturen untersucht, oft unter Zuhilfenahme mathematischer Methoden. Die Frage, wie sich verschiedene soziale Bindungen auf unser Leben und unseren wirtschaftlichen Erfolg auswirken, beschäftigt ihn seit Jahrzehnten. Vor allem die Frage, wie sich dies bei Männern und Frauen unterscheidet.

Herr Uzzi, Sie forschen an dem Konzept der starken und schwachen Bindungen. Was verbirgt sich dahinter?
———— Es gibt starke Bindungen, etwa zu Familie und engen Freunden, und schwache Bindungen, etwa zu losen Bekannten. Es gibt auch noch eine dritte Kategorie: die fehlenden oder unsichtbaren Bindungen. Darunter fällt etwa der Nachbar, dem ich morgens auf der Straße zunicke. Wir sprechen von fehlenden Bindungen, weil diese in Modellen meist nicht berücksichtigt werden.
Es gibt also enge und weniger enge Beziehungen zu unseren Mitmenschen. Klingt erst einmal trivial. Welche interessanten Erkenntnisse ergeben sich daraus für den individuellen Erfolg?
———— Der interessanteste Aspekt ist sicherlich, dass die schwachen Bindungen wichtiger für den eigenen Erfolg sind als die starken. Der Soziologe Mark Granovetter hat das bereits 1973 in „The Strength of Weak Ties“ erläutert, eine der einflussreichsten Arbeiten des Faches überhaupt.
Bekannte sind wichtiger als die Familie. Das erschließt sich nicht auf Anhieb.
———— Wenn man weiter darüber nachdenkt, ist es logisch. Unsere starken Bindungen sind Menschen, die sich in denselben sozialen Zirkeln wie wir bewegen, im Job wären das zum Beispiel Kollegen aus derselben Abteilung. Die schwachen Bindungen sind Menschen aus anderen Firmen, vielleicht sogar anderen Branchen. Über diese bekommen wir neue Informationen, die uns ansonsten entgehen würden. Wir erfahren, welche Firma gerade neue Leute anstellt oder Personal entlässt, was sich in anderen Jobs verdienen lässt. Wir sammeln also über unsere schwachen Bindungen Marktinformationen, füllen unsere blinden Flecken aus. So können wir neue Karrierechancen identifizieren, sowohl in unseren eigenen Firmen als auch bei vielleicht noch fremden Firmen – und uns besser auf Gehaltsverhandlungen vorbereiten.
Eignet sich ein 50 Jahre altes Paper wirklich, um die moderne Arbeitswelt zu erklären?
———— Die Theorie hat sich als wirklich stabil erwiesen. Erst jüngst gab es eine große Analyse auf Basis von Kontakten im Karrierenetzwerk LinkedIn, die das Konzept weitestgehend bestätigt hat. Sie hat gezeigt, dass die schwache Verbindung – also eine solche, bei der man nur einen gemeinsamen Freund hat – viel eher zu einer neuen Jobchance führte als solche mit Menschen, mit denen man deutlich mehr, sagen wir 25 Kontakte teilt. Soziale Netzwerke sind heute mindestens so relevant, um ökonomische Ergebnisse zu erklären, wie es vor 50 Jahren die Offlinenetzwerke waren, die Granovetter analysiert hat. Diese Analyse zeigt, dass die Theorie mit der veränderten Arbeitswelt Schritt hält.
Lässt sich die Theorie dank der Social-Media-Daten erweitern?
———— Einen interessanten neuen Aspekt gab es: Es hat sich gezeigt, dass eine Verbindung mit zehn gemeinsamen Kontakten mit doppelt so hoher Wahrscheinlichkeit zu einem neuen Job führt wie die Verbindung mit nur einem gemeinsamen Kontakt. Das heißt: Bis zu einem gewissen Grad hilft eine Verstärkung der Bindung, danach nimmt sie ab, ein umgedrehtes U. In der Praxis bedeutet das, dass mäßig schwache Bindungen den größten Effekt haben, größer noch als sehr schwache Bindungen.
Wie erklärt sich das?
———— Wir haben hier zwei gegenläufige Effekte. Einerseits bringen uns schwache Bindungen neue und nützliche Informationen. Andererseits helfen wir vor allem Menschen, mit denen wir etwas gemeinsam haben. Das kann schon so etwas Simples sein wie die Tatsache, dass man am selben Tag Geburtstag hat. Die mäßig schwachen Bindungen liegen genau im Idealpunkt, diese Leute haben ein wenig mit uns gemeinsam – sind also hilfsbereit – und haben auch Infos, die wir noch nicht kennen.
Eignet sich ein Karrierenetzwerk denn wirklich zur Analyse dieser Theorie? Mit meiner Familie und meinen engen Freunden bin ich bei LinkedIn zum Beispiel nicht verknüpft, die fallen also aus der Rechnung.
———— Das mag sein, aber das gilt ja für alle, die dort unterwegs sind. Problematisch an der Untersuchung war eher, dass es den Aspekt der Geschlechter ausklammert. Dabei hat das Geschlecht einen großen Einfluss auf die Wirkung der schwachen Bindungen, wie ich in einer separaten Studie zeigen konnte.
Foto gläsernes Bürogebäude
Das müssen Sie erklären.
———— Zunächst einmal: Schwache Bindungen fördern eine bessere Jobvermittlung sowohl bei Männern als auch bei Frauen. Aber Frauen brauchen, damit dieser Effekt greift, noch etwas anderes: starke Bindungen zu anderen Frauen. Eine aktuelle Studie, die ich mit Kollegen durchgeführt habe, zeigt das noch einmal sehr deutlich. Dazu haben wir uns die Vermittlung von Hochschulabsolventen angeguckt, vor allem in MINT-Fächern. Es hat sich gezeigt, dass Absolventinnen bei sonst gleichen Voraussetzungen den Job nur bekommen, wenn sie auch starke Bindungen zu anderen Frauen haben.
Woran liegt das?
———— Der Grund dafür ist die allgemein bekannte Benachteiligung. Frauen bekommen in Jobinterviews andere Fragen gestellt, werden anders behandelt als Männer. Dadurch fühlen sie sich unwohl. Das mindert die Performance im Bewerbungsgespräch, was dann am Ende gerne genutzt wird, um die Kandidatinnen auszusortieren. Diese Erkenntnis baut auf der ursprünglichen Absicht der Strong-Weak-Ties-Theorie auf. Denn man kann diese sehr gut nutzen, um Ungleichheiten bei beruflicher Mobilität zu erklären.
Inwieweit helfen Frauen nun starke Netzwerke mit anderen Frauen?
———— Nur dort bekommen Frauen die nötige Vorbereitung auf die Gespräche. Sie können sagen, welche Art von Fragen kommt. Sie können dabei helfen, sich darauf vorzubereiten, denn andere Frauen haben ähnliche Erfahrungen gemacht. Diese Art von persönlichen Erfahrungen teilen wir aber eher mit unseren engeren Bekannten. Über schwache Bindungen erhalten wir so etwas nicht.
Und Männer brauchen das nicht?
———— Nein, Männer brauchen diese Art eines doppelten Netzwerks nicht für ihren Karriereweg.
Portraitfoto Brian Uzzi

„Der interessanteste Aspekt ist sicherlich, dass die schwachen Bindungen wichtiger für den eigenen Erfolg sind als die starken.“

Frauen brauchen also ein Netzwerk schwacher Bindungen und eines aus starken Bindungen mit Frauen. Wie lässt sich ein gutes Netzwerk überhaupt aufbauen?
———— Ein Netzwerk an schwachen Bindungen aufzubauen, ist vor allem schwierig, weil es unserem Instinkt zuwiderläuft. Freunde unserer Freunde werden oft auch unsere Freunde. Wir wollen das, psychologisch, so fühlen wir uns wohl. Aber wir kreieren so eine Echokammer an Verbindungen, in der die immer gleichen Informationen widerhallen. Der Nutzen für die eigene Karriere ist entsprechend gering.
Können soziale Netzwerke dabei helfen, diesen Effekt zu bekämpfen?
———— Grundsätzlich verstärken sie ihn. Die sozialen Netzwerke drängen uns in Echokammern wegen der bekannten Algorithmen. Sie machen es uns andererseits aber auch einfacher, neue Leute kennenzulernen. Denn das ist der entscheidende Punkt beim Schaffen neuer schwacher Verbindungen: Man muss das eigene Netzwerk konstant erneuern, gerade wenn man eigentlich Erfolg hat. Denn Erfolg kann eine Falle sein. Wenn zwei Autoren gemeinsam ein Buch schreiben und das ein Bestseller wird, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie wieder zusammenarbeiten, exponentiell. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Erfolg wiederholt, allerdings nicht.
„Kill your darlings“, ist das die Idee?
———— Man sollte konstant schauen, dass im eigenen Netzwerk viele verschiedene Perspektiven enthalten sind. Nehmen wir an, Sie würden im Finanzwesen arbeiten. Dann wäre es sicher gut, in möglichst vielen Banken jemanden zu kennen: einen bei Goldman, einen bei der Deutschen Bank und so weiter. Darauf sollten Sie achten. Und dann sollten Sie sich um Kontakte in andere Branchen bemühen. Warum nicht jemand aus dem Techsektor?
Wie aber kriegen Frauen ein Netzwerk aus starken Bindungen zu anderen Frauen? Klassische Networkingevents sollten doch eher schwache Bindungen produzieren.
———— Richtig, wenn Sie Teil eines Frauennetzwerks sind, schaffen Sie erst mal eine Menge schwacher Bindungen. Die helfen dann dabei, den Markt kennenzulernen. Aber Ihre Bekannten aus diesen Netzwerken verraten Ihnen nicht, wie Sie sich als Frau verhalten sollten. Diese schwachen Bindungen dann in starke Bindungen zu übersetzen, erfordert Arbeit. Sie müssen irgendeine Art von gemeinsamer Erfahrung schaffen.
Also Leute zum Mittagessen einladen?
———— Nein, das reicht nicht. Es muss etwas sein, wo Sie etwas von sich und Ihrem Charakter preisgeben. Gut untersucht sind die Auswirkungen von gemeinsamen Laufgruppen. Wer sich einer solchen anschließt, schafft eher starke Bindungen zu den anderen Mitgliedern. Die Wirkung wird noch verstärkt, wenn man auf ein gemeinsames Ziel, zum Beispiel ein Rennen, hinarbeitet. Dieser Effekt lässt sich nicht nur im professionellen Kontext beobachten, in Familien ist das ähnlich. Wenn Sie Ihre Eltern besuchen und gemeinsam kochen, hat das eine größere Wirkung, als wenn Sie nur gemeinsam vor dem Fernseher sitzen.
Können zu viele schwache Bindungen auch schädlich sein?
———— Tatsächlich bringt es irgendwann nichts mehr, immer mehr schwache Bindungen anzusammeln. Jemand, der 50 schwache Bindungen hat, hat nicht mehr Erfolg als jemand, der 10 hat. Aber schwache Bindungen motivieren Menschen auch nicht, die Position zu wechseln. Denn mit Ihren schwachen Bindungen sprechen Sie ja nicht täglich, sondern nur hin und wieder mal. Man holt sich also nicht täglich Marktinformationen ein, die einen nervös machen können. Die Schwäche der sozialen Netzwerkanalyse sehe ich eher darin, dass sie sich überwiegend darauf fokussiert, wie Netzwerke Erfolg beeinflussen. Das Scheitern wiederum spielt kaum eine Rolle. Nicht jedes Bewerbungsgespräch, das ich dank meiner schwachen Bindungen bekomme, verläuft erfolgreich. Die bisherige Forschung deutet aber darauf hin, dass es gerade die starken Bindungen sind, die einen durch diverse erfolglose Anläufe unterstützen. Schwache Bindungen sind also bei Weitem nicht das Allheilmittel der Karriereplanung.

FOTOS:

Getty Images/brightstars (Aufmacher); Unsplash/Mike Kononov (Gebäude); privat (Porträt)

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